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3.8 Mengen

Heutzutage wählen die meisten Mathematiker als die formale Grundlage der Mathematik den Begriff der Menge. Kompliziertere Objekte drückt man dann in geeigneter Weise als/durch Mengen aus. Zum Beispiel kann man die natürlichen Zahlen als Mengen »kodieren«, indem man die natürliche Zahl \(n\) durch eine Menge mit \(n\) Elementen »ersetzt«. Unten werden wir sehen, wie man den Begriff der Funktion \(X\to Y\) in Termen von Mengen ausdrückt.

Es bleibt allerdings zu sagen, was man überhaupt unter einer Menge versteht. Formal wäre der richtige Ansatz hier ein geeignetes Axiomensystem zugrundezulegen, das die essenziellen Eigenschaften von Mengen festschreibt und auf dessen Grundlage wir dann arbeiten könnten – zum Beispiel das Axiomensystem ZFC, benannt nach den Mathematikern Ernst Zermelo und Abraham Fraenkel. (Das C steht für das »Auswahlaxiom«, englisch: axiom of choice, siehe Anhang B.1.)

Wir wollen uns diese Arbeit aber hier ersparen und wählen stattdessen einen »naiven Zugang«.

Eine Menge ist eine Zusammenfassung mathematischer Objekte. Eine Menge \(M\) ist gegeben durch ihre Elemente: Für alle Objekte \(x\) gilt entweder \(x\in M\) (d.h. \(x\) ist ein Element von \(M\); wir sagen, \(x\) liege in \(M\)) oder \(x\not \in M\) (d.h. \(x\) ist kein Element von \(M\)). Zwei Mengen \(M\), \(M^\prime \) sind genau dann gleich, wenn sie dieselben Elemente haben, also wenn für alle \(x\) gilt:

\[ x\in M \quad \text{genau dann, wenn} \quad x\in M^\prime . \]

Beispiel 3.15
  • Die leere Menge bezeichnen wir mit \(\emptyset \) oder mit \(\{ \} \). Dies ist die einzige Menge, die kein Element enthält, d.h. für alle \(x\) gilt \(x\notin \emptyset \). Achtung: »Doppelt gemoppelt« hält in diesem Fall nicht besser: \(\{ \emptyset \} \) ist nicht die leere Menge, sondern eine Menge mit einem Element: \(\emptyset \in \{ \emptyset \} \).

  • Wir können Mengen angeben, indem wir alle ihre Elemente hinschreiben: \(\{ 1, 2, 3, 4, 5 \} \). Beachten Sie, dass

    \[ \{ 1, 2, 3, 4, 5\} = \{ 1, 4, 2, 5, 3 \} = \{ 1, 1, 3, 5, 4, 4, 2 \} , \]

    die Reihenfolge der Elemente spielt ebensowenig eine Rolle wie die Frage, ob Elemente mehrfach genannt sind.

  • Für die meisten Mengen, die wir betrachten, ist es nicht möglich, alle Elemente direkt hinzuschreiben. Oft werden wir Mengen dadurch angeben, dass wir aus einer Grundmenge alle Elemente auswählen, die eine gewisse Eigenschaft haben. Ist zum Beispiel \(\mathbb N\) die Menge der natürlichen Zahlen, dann ist

    \[ \{ n\in \mathbb N;\ \exists m\in \mathbb N: n = m^2 \} \]

    die Menge der Quadratzahlen. Statt des Semikolons findet man auch häufig die Notation mit einem senkrechten Strich \(\mid \).

  • Manchmal kann man alle Elemente einer Menge »aufzählen«, indem man beschreibt, wie sie durch eine Konstruktion aus anderen Elementen entstehen, zum Beispiel können wir die Menge aller Bruchzahlen schreiben als

    \[ \mathbb Q = \left\{ \frac ab;\ a,b\in \mathbb Z,\ b\ne 0 \right\} . \]

Beispiel 3.16

Wichtige Beispiele von Mengen sind natürlich die üblichen Zahlbereiche:

  • Die Menge der natürlichen Zahlen bezeichnen wir mit \(\mathbb N\):

    \[ \mathbb N= \{ 0, 1, 2, 3, \dots \} . \]

    Die Frage, ob die Zahl \(0\) eine natürliche Zahl ist, und dementsprechend ob die mit dem Symbol \(\mathbb N\) bezeichnete Menge die Zahl \(0\) enthält, wird in der Literatur nicht einheitlich gehandhabt. In diesem Text schließen wir die \(0\) mit ein. (Gegebenenfalls schreiben wir \(\mathbb N_{{\gt}0}\) oder \(\mathbb Z_{{\gt}0}\) für die Menge der natürlichen Zahlen ohne \(0\).)

  • Mit \(\mathbb Z\) bezeichnen wir die Menge der ganzen Zahlen:

    \[ \mathbb Z= \{ \dots , -3, -2, -1, 0, 1, 2, 3, \dots \} . \]

    Wir erhalten die Menge \(\mathbb Z\) aus der Menge \(\mathbb N\) der natürlichen Zahlen, indem wir zu jeder natürlichen Zahl \(\ne 0\) ihr Negatives hinzufügen. Ganze Zahlen kann man addieren, subtrahieren und multiplizieren, und es gelten die »üblichen Rechenregeln«.

  • Mit \(\mathbb Q\) bezeichnen wir die Menge der rationalen Zahlen, mit anderen Worten die Menge der Bruchzahlen von zwei ganzen Zahlen:

    \[ \mathbb Q = \left\{ \frac ab;\ a,b\in \mathbb Z,\ b\ne 0 \right\} . \]

    Es gelten die üblichen Bruchrechenregeln: Zunächst einmal gilt \(\frac ac = \frac bd\) genau dann, wenn \(ad = bc\) (das beschreibt die Möglichkeit, einen Bruch zu kürzen bzw. zu erweitern). Die Addition und Multiplikation von Brüchen sind definiert als

    \[ \frac ac + \frac bd = \frac{ad+bc}{cd},\quad \frac ac \cdot \frac bd = \frac{ab}{cd}. \]

    Wenn man mit konkreten Zahlen rechnet, sollten die Ergebnisse natürlich in gekürzter Form angegeben werden. Wir betrachten \(\mathbb Z\) als Teilmenge (siehe Definition 3.18) von \(\mathbb Q\) und schreiben \(a\) statt \(\frac a1\), auch wenn wir \(a\) als Element von \(\mathbb Q\) auffassen. Beachte, dass die Addition und Multiplikation auf \(\mathbb Z\) und \(\mathbb Q\) kompatibel sind.

  • Die Menge der reellen Zahlen hat das Symbol \(\mathbb R\). Auch wenn das der Rechenbereich ist, der Ihnen (vermutlich) aus der Schule am geläufigsten ist, ist er aus mathematischer Sicht deutlich komplizierter als der Bereich der rationalen Zahlen.

    Man kann jede reelle Zahl durch ihre Dezimalbruchentwicklung beschreiben (die unendlich viele Stellen hinter dem Komma haben kann), aber auch hier gibt es das Problem, dass die Darstellung nicht eindeutig ist (es ist \(0,999\dots = 1\)), und es ist nicht ganz trivial, die Rechenoperationen für solche Zahlen »sauber« hinzuschreiben. Weitere Ausführungen zur Konstruktion (bzw. zur Charakterisierung) der reellen Zahlen überlassen wir der Analysis-Vorlesung.

Ergänzung 3.17 Russells Paradoxon

Dass man die Definition einer Menge als Zusammenfassung mathematischer Objekte nicht ohne jegliche Vorsicht verwenden kann, zeigt das Paradoxon von Bertrand Russell. Wenn wir für jede Menge \(M\) und jedes mathematische Objekt \(x\) entweder \(x\in M\) oder \(x\not \in M\) haben, können wir auch fragen, ob \(M\in M\) oder \(M\not \in M\) gilt. (Für die Mengen, die wir kennen, gilt sicher \(M\not \in M\), aber es könnte ja auch Mengen geben, die sich selbst als Element enthalten.)

Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als daß ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte.

G. Frege im Nachwort des zweiten Bands seiner Grundgesetze der Arithmetik von 1903, in dem er ein Axiomensystem der Arithmetik aufzubauen versuchte, das auf dem naiven Mengenbegriff basierte

Sei nun \(X\) die Menge aller Mengen \(M\), für die gilt \(M\not \in M\).

Wenn dann \(X\in X\) wäre, so folgt \(X\not \in X\). Wäre \(X\not \in X\), so folgt \(X\in X\). So oder so erhalten wir einen Widerspruch!

Solche Paradoxien werden durch die Einführung eines geeigneten Axiomensystems wie ZFC vermieden, da sich die »Menge«, über die Russells Paradox spricht, innerhalb dieses Systems nicht konstruieren lässt.

Buchtipp (in Comicform): A. Doxiadis, C. Papadimitriou, Logicomix: Eine epische Suche nach Wahrheit, (der Vollständigkeit halber: …the reader should provide his/her grain of salt)