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3.6 Wie schreibe ich einen Beweis (oder: die Lösung einer Aufgabe) auf?

Oder allgemeiner: Wie schreibt man ein »Stück Mathematik« auf, das man verstanden hat und nun dokumentieren möchte? Sei es ein Beweis, den man sich überlegt hat, sei es die Lösung einer Hausaufgabe oder die Lösung einer Klausuraufgabe. Natürlich gibt es zwischen diesen Kategorien gewisse Unterschiede, aber viele Grundsätze sind doch in allen Fällen gleich.

Auch das ist etwas, was man lernen und üben muss (und kann!). Machen Sie sich bewusst, dass gute Aufschreiben eines der Lernziele der Vorlesung ist. Am wichtigsten dafür ist das »learning by doing« durch das Abgeben der Hausaufgaben. Aber es ist vielleicht auch hilfreich, sich bewusst zu machen, was man anstrebt und worauf man achten sollte.

3.6.1 Grundprinzipien

Drei Punkte, die ich ganz an den Anfang stellen möchte:

\(\bullet \) Als erstes muss man den mathematischen Inhalt dessen verstehen, was man aufschreiben möchte. Natürlich sollte man auch schon für das Knacken eines mathematischen Problems Papier und Stift zur Hand haben, so dass man sich Notizen machen, Rechnungen ausführen, Informationen zusammentragen und Zusammenhänge festhalten und »Sachen ausprobieren« kann.

Der aufgeschriebene Beweis ist aber in aller Regel nicht die Version, die vorher auf einem Schmierzettel entstanden ist: Nachdem man die Lösung verstanden hat, ist es ein wichtiger Schritt, die optimale Struktur herauszuarbeiten, wie man sie aufschreibt (und sich zu überlegen, welche Teile der vorherigen Überlegungen sich als überflüssig herausgestellt haben und nun weggelassen werden sollten).

\(\bullet \) Was sollte das Ziel beim Aufschreiben sein? Dass die gedachte Leserin den Beweis/die Lösung der Aufgabe gut verstehen kann. Eine gute Daumenregel ist dabei, sich eine Leserin vorzustellen, die ungefähr dieselben Kenntnisse hat/Voraussetzungen mitbringt wie man selbst bevor man sich mit dieser konkreten Aufgabe beschäftigt hat. (Es ist nicht so sinnvoll, an eine Leser*in zu denken, der die Lösung schon vorher bekannt ist; dann könnte man in vielen Fällen ja einfach schreiben »Die Lösung ist offensichtlich.«)

Die Kompetenz, auch schwierige Sachverhalte für andere verständlich zu dokumentieren ist ein wichtiges Lernziel der Mathematikvorlesungen der ersten Semester (und die »Kompetenz«, eine Lösung für jemanden aufzuschreiben, der die Lösung ohnehin schon kennt, ist im Gegensatz dazu ziemlich nutzlos).

Schreiben Sie die Lösung so auf, dass Sie damit wirklich zufrieden sind, und so, wie Sie es sich als Leserin wünschen würden! Insbesondere sollte alles, was Ihnen Schwierigkeiten bei der Lösungsfindung bereitet hat, angesprochen werden. Versuchen Sie, es der Leserin so leicht wie möglich zu machen.

\(\bullet \) Lassen Sie weg, was nicht erforderlich ist. Besonders bei Lösungen zu Klausuraufgaben: Dies ist nicht der Ort um darzulegen, was Sie sonst noch alles wissen! Es ist auch kein Pluspunkt, wenn sich die Korrektor*in aus vielen richtigen, aber meist irrelevanten Aussagen diejenigen heraussuchen muss, die überhaupt für die Lösung eine Rolle spielen – im Gegenteil! Versuchen Sie, die Lösung auf den Punkt zu bringen, indem Sie die erforderlichen Argumente alle nennen und andere Sachen ausblenden.

Bei anderen Texten kann es sinnvoll sein, auch einmal »über den Tellerrand zu schauen« und zusätzliche Bemerkungen oder Hinweise zu geben. Diese sollten dann aber getrennt werden vom Beweis des entsprechenden Satzes und als Zusatzstoff erkennbar sein.

3.6.2 Einen Beweis/eine Lösung strukturieren

Als nächstes ist es wichtig, der Leserin einen gut strukturierten Text zu präsentieren.

Es muss klar sein, was die zu beweisende/erklärende Aussage überhaupt ist. Wenn man einen Beweis aufschreibt, muss also erstmal der Satz formuliert werden, der überhaupt bewiesen werden soll. Schreibt man die Lösung einer Haus-/Klausuraufgabe auf, dann ist natürlich die Aufgabe vorgegeben; es ist dann nicht erforderlich, die Aufgabenstellung abzuschreiben.

Der Beweis selbst beziehungsweise die Aufgabenlösung muss eine klare Struktur haben. Beispielsweise muss sichtbar sein, ob man sich in einem direkten Beweis oder einem Widerspruchsbeweis befindet (und dann, was die zu widerlegende Annahme ist). Dazu muss man nicht unbedingt schreiben Wir führen einen Widerspruchsbeweis., man kann das auch anders signalisieren (zum Beispiel: Wir wollen die folgende Annahme zum Widerspruch führen, oder Angenommen, das wäre nicht der Fall.). In längeren Beweisen sollten die Beweisschritte klar getrennt sein. Unter Umständen lohnt es sich, zu Beginn die Beweisstrategie zu erklären. Ähnlich ist es mit Fallunterscheidungen, »Vorüberlegungen«, die man dem eigentlichen Beweis voranstellt, und so weiter. Gegebenenfalls kann man einzelne Teile auslagern in Hilfssätze oder Lemmata, die man eigenständig formuliert und beweist.

Insbesondere, bevor gerechnet wird, muss erklärt werden, was die Rechnung ist, gegebenenfalls nach welchem Verfahren sie durchgeführt wird, und idealerweise welchem Zweck sie dient. Je nach Situation sind manche dieser Punkte selbsterklärend (zum Beispiel: Soll die Lösungsmenge eines linearen Gleichungssystems bestimmt werden, kann es genügen zu sagen Wir bringen die Matrix \(A\) mit dem Gauß-Algorithmus auf reduzierte Zeilenstufenform.; der Zweck dieser Rechnung sollte im Kontext der Aufgabe klar sein).

Das Ziel einer Rechnung anzugeben hat bei der Lösung von Aufgaben den zusätzlichen Nutzen, dass Rechenfehler nicht so stark ins Gewicht fallen, wenn klar ist, dass Sie wussten, was zu tun ist und sich wirklich nur verrechnet haben. Wenn andererseits der Eindruck entsteht, dass Sie einfach irgendetwas rechnen, ohne einen Zusammenhang mit der Aufgabe herstellen zu können, gibt es auch für eine korrekte Rechnung nicht die volle Punktzahl.

Dazu, den Beweis gut zu strukturieren, gehört es auch, die Implikationspfeile \(\Rightarrow \), \(\Leftarrow \) und den Äquivalenzpfeil \(\Leftrightarrow \) richtig zu benutzen (wenn man sie überhaupt benutzt und nicht durch Text ersetzt; siehe unten). Als erstes heißt das natürlich, nur korrekte Aussagen hinzuschreiben und nicht eine Implikation/Äquivalenz zu behaupten, die gar nicht gilt. Zweitens ist aber darauf zu achten, dass alle Implikationen, die für den Beweis benötigt werden, auch angegeben werden. Je nach Aufbau eines Beweises können das Äquivalenzen sein, oder Folgerungen der Form \(\Rightarrow \). Reduktionsschritte (es genügt dafür zu zeigen, dass …) entsprechen aber Folgerungen der Richtung \(\Leftarrow \).

Es sollte im Beweis/in der Lösung sichtbar werden, wo die Voraussetzungen eingehen (besonders dann, wenn diese Stellen etwas »versteckt« sind). Ein Satz sollte so formuliert werden, dass nur solche Voraussetzungen gemacht werden, die auch erforderlich sind (sei es, damit die Aussage überhaupt richtig ist, sei es, damit der dann angegebene Beweis gültig ist; je nachdem könnte man darauf hinweisen, dass eine Voraussetzung mit entsprechender Mehrarbeit weggelassen werden kann). Bei Aufgaben ist es in der Regel auch so, dass die gemachten Voraussetzungen ihre Bedeutung haben; und wenn man eine der Voraussetzungen in seiner Lösung gar nicht benötigt, ist das ein Warnsignal, das darauf hinweisen kann, dass vielleicht etwas noch nicht stimmt.

3.6.3 Einige Regeln, um mathematische Aussagen aufzuschreiben

Allgemein sind beim Aufschreiben mathematischer Aussagen einige Sachen zu beachten.

\(\bullet \) Symbole, die Sie verwenden, müssen definiert werden! Natürlich können Sie allgemeine Bezeichnungen, die »Standard« sind bzw. in der Vorlesung eingeführt wurden, verwenden. Aber Symbole, die »auf einmal auftauchen«, müssen beim ersten Auftreten eingeführt werden. Verlassen Sie sich nicht darauf, dass der Leser »errät«, dass \(A\) die Matrix bezeichnet, die ein paar Zeilen vorher betrachtet wurde, oder dass \(v\) ein Element des Vektorraums ist, den Sie betrachten.

\(\bullet \) Es ist wichtig, Klarheit hinsichtlich der Quantoren herzustellen (egal, ob die Formelsymbole \(\forall \), \(\exists \) benutzt werden, oder ob sie durch Text ersetzt werden): Ist gemeint, dass eine Aussage für alle Objekte gilt, oder dass es überhaupt ein Objekt gibt, für das die Aussage gilt. Wenn mehrere Quantoren im Spiel sind, ist es wichtig, die Reihenfolge klarzumachen – es ist ein großer Unterschied, ob es für alle \(x\) ein \(y\) gibt, so dass …, oder ob es ein \(y\) gibt, so dass für alle \(x\) ….

\(\bullet \) Um zu zeigen, dass ein Objekt mit einer gewissen Eigenschaft existiert, ist es am einfachsten, ein möglichst konkretes Beispiel zu geben. Natürlich ist das nicht immer möglich. Aber wenn man kein konkretes Beispiel geben kann, muss man besonders aufpassen, dass man nicht nur darüber redet, dass die Existenz des gewünschten Objektes nicht im Widerspruch zu anderen Tatsachen steht. Das reicht nicht aus, die Existenz zu belegen! Denn es könnte ja immer noch andere Gründe geben, die einem gerade nicht eingefallen sind, und die nach sich ziehen, dass es sin solches Objekt eben doch nicht geben kann. Ganz besonders gilt diese Bemerkung für Aufgaben, in denen gezeigt werden soll, dass eine Aussage *nicht allgemein richtig* ist. Man sollte dann immer versuchen ein (möglichst) konkretes Gegenbeispiel anzugeben.

\(\bullet \) Schreiben Sie nur dann »=«, wenn beide Seiten gleich sind! Zum Beispiel nicht, wenn es sich um Matrizen handelt, die durch eine Zeilenumformung auseinander hervorgehen. Oder wenn auf der einen Seite eine Matrix, auf der anderen ihre Determinante steht. Manchmal ist es wichtig zu wissen, als was die beiden Seiten verstanden werden, um über die Gleichheit zu entscheiden (es ist zum Beispiel zulässig, \(1 = 3\) zu schreiben, wenn klar ist, dass es sich hier um Elemente des Körpers \(\\ mathbb F_2\) handelt).

\(\bullet \) Gleichungsketten \(a = b = c = d\) sollten so geschrieben werden, dass die Gültigkeit jedes einzelnen \(=\) klar ist beziehungsweise direkt begründet wird. Im obigen schematischen Beispiel sollten also die Gleichheiten \(a=b\), \(b=c\), \(c=d\) die Gleichheiten sein, die einzeln erklärt werden können (oder sogar offensichtlich sind). Das Ziel des Arguments ist dann, die Gleichheit \(a=d\) zu folgern.

3.6.4 Unterschiede zwischen verschiedenen Formaten

Es ist ein Unterschied, ob man – womöglich unter Zeitdruck wie in einer Klausur - die Lösung einer Aufgabe aufschreibt, ob man eine Abschlussarbeit (Bachelorarbeit, Masterarbeit, …), einen Artikel für eine Fachzeitschrift oder ein Lehrbuch schreibt. Es ist wieder etwas anderes, ob man an der Tafel einen Vortrag hält, oder ein Lernvideo macht.

Speziell in der Klausur und an der Tafel ist es erlaubt und sinnvoll, sich kurz zu fassen. Das bedeutet auch, dass Abkürzungen benutzt werden können (VR statt Vektorraum, l.u. statt linear unabhängig) und Formelsprache eingesetzt werden kann (\(\forall \), \(\exists \), \(\Leftrightarrow \)), und dass nicht unbedingt voll ausformulierte Sätze verwendet werden müssen.

Aber: Das darf nicht auf Kosten der Klarheit gehen und bedeutet, dass man sich umso mehr Mühe geben muss, dass die wichtige Information vollständig vorhanden ist! Besonders in diesen Formaten ist es wichtig, Beweise/Lösungen klar zu strukturieren. Erklärungen sind mindestens so wichtig wie (an der Tafel: wichtiger als) einzelne Rechenschritte!

Bei einem getippten Text sieht es natürlich etwas anders aus. Dieser sollte flüssig zu lesen sein, und das bedeutet auch, dass von »Formelsprache« nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht werden sollte. (Auf den ca. 350 Seiten dieses Skripts kommt das Symbol \(\forall \) weniger als zehnmal vor; davon fünfmal in dem Abschnitt, in dem das Symbol definiert wird.) Ein bisschen unterscheidet sich dieser Punkt je nach Geschmack der Autorin und auch nach mathematischen Gebiet. Jedenfalls sollte aber die Lesbarkeit an erster Stelle stehen, und nicht der Wunsch, mit möglichst wenigen Schriftzeichen auszukommen.

Bei getippten Texten sollten einige Grundregeln des mathematischen Schriftsatzes beachtet werden. Siehe C.2 für eine kurze Liste und weitere Verweise (siehe auch die Box unten).

In einem Buch (und auch bei einer Abschlussarbeit, vielleicht mit einem etwas anderen Maßstab) kann es auch sinnvoll sein, bewusst einzelne Schritte der Leserin zu überlassen. Anders als bei einer Aufgabenlösung steht hier der Punkt, dass die Leserin bei der Lektüre etwas Neues lernt im Vordergrund, und der Punkt, dass die Autorin dokumentiert, den Stoff selbst verstanden zu haben, im Hintergrund. Und neue Mathematik zu lernen, geht eben nur mit aktivem Mitdenken, dass der Text deshalb auch explizit einfordern darf, indem Lücken gelassen werden, die die Leserin selbst füllen muss. Gerade bei Rechnungen oder Ausführungen, bei denen es genauso lange dauern würde, sie sich mit Verständnis durchzulesen, wie sie selbst durchzuführen, ist das sinnvoll. Allerdings: Diese »Lücken« sollten explizit als solche erkennbar sein, und nicht dadurch enstehen, dass die Autorin selbst vergessen hat, über wichtige Punkte nachzudenken, oder dadurch begründet sein, dass die Autorin sich selbst Arbeit sparen möchte! (Es ist eine häufige Fehlerquelle, dass man Beweisschritte, die man sich nur ungefähr überlegt hat, als offensichtlich oder trivial bezeichnet. Wenn immer man diese Wörter schreibt, sollte man sich zu besonderer Aufmerksamkeit zwingen.)

3.6.5 Praxistraining

Mathematik aufzuschreiben, muss man üben (genau so, wie mathematische Probleme zu lösen). Im Studium haben Sie dazu Gelegenheit, indem Sie regelmäßig die Hausaufgaben abgeben, die Korrekturen sorgfältig durchgehen und gegebenenfalls Nachfragen dazu stellen.

Darüber hinaus ist es sinnvoll, sich dann und wann Zeit zu nehmen und bewusst auf den Aspekt der Darstellung/des Aufschreibens zu achten. Man kann sich zum Beispiel die »Musterlösungen«/Lösungsvorschläge in Hinsicht darauf anschauen und mit den eigenen Lösungen vergleichen. Oder die Vorlesung, das Skript, Lehrbücher anschauen und gegebenenfalls auch mal vergleichen und bewerten. (Was gefällt Ihnen gut, was nicht so gut? Was ist gut oder nicht so gut zu lesen und woran liegt das? Mit welchem Stil kommen Sie gut klar?)

Das gewissenhafte Aufschreiben ist eine sehr gute Qualitätskontrolle, ob man die Lösung der Aufgabe wirklich verstanden hat (oder ob die Aussage, die man glaubt bewiesen zu haben, überhaupt korrekt ist). Oft genug stellt man beim Aufschreiben (bzw. wenn man versucht, seinen Beweis jemand anderem zu erklären) fest, dass man doch noch etwas übersehen hat. Auch deshalb lohnt es sich, das klare Aufschreiben zu trainieren.

3.6.6 Lebenslanges Lernen

Klar und fehlerfrei über schwierige und komplizierte Dinge zu kommunizieren ist eine der Fertigkeiten, die man sich im Mathematikstudium aneignet (denn ohne sie kann man das Studium kaum erfolgreich abschließen) und die auch im Berufsleben - egal wo – von sehr hohem Nutzen sind. Auch wenn es nicht um Mathematik, sondern um anderes geht. Dies ist aus meiner Sicht einer der wichtigen Gründe, warum Mathematikerinnen auf dem Arbeitsmarkt so gefragt sind. (Und bezogen auf die Lehramtsstudierenden: Etwas, wo Ihre Schülerinnen von Ihrem guten Beispiel mindestens genauso profitieren können, wie von dem konkreten mathematischen Stoff, den Sie vermitteln.)

Wie so vieles ist das gute Aufschreiben etwas, wo man sich immer weiter verbessern kann, und was je nach Tagesform mal besser und mal schlechter klappt. Und das gilt auch für dieses Skript! Ich hoffe zwar, dass es in weiten Teilen als gutes Beispiel taugt, aber das ist sicher nicht überall so. »Beschweren« Sie sich gerne, zum Beispiel im Forum auf der Moodle-Seite zur Vorlesung, wenn etwas für Sie unverständlich ist!