Inhalt

3.2 Was ist ein Beweis? *

Das heute allgemein anerkannte Grundprinzip der Mathematik ist die sogenannte axiomatische Methode:

  • ausgehend von einer (kleinen) Liste von Annahmen (»Axiomen«)

  • unter Ausnutzung »offensichtlich« korrekter Schlussweisen

  • wahre Aussagen zu beweisen.

Die Axiome setzen also sozusagen den Rahmen für die Theorie. Bei der Auswahl der Axiome muss man eine Balance finden, weil man genügend viele/starke Axiome benötigt, um damit dann auch etwas beweisen zu können, aber andererseits nur solche Axiome verwenden möchte, die »offensichtlich wahr« sind, d.h., die sich in der Anschauung widerspiegeln, die man von der mathematischen Theorie hat, die man aufbauen möchte.

Je nachdem, worüber man mathematisch sprechen möchte, kann man unterschiedliche Axiomensystems benutzen. Drei der bekanntesten Systeme sind

  1. die Peano-Axiome, die die Eigenschaften der natürlichen Zahlen formalisieren,

  2. Euklids Axiome der Geometrie, die die geometrischen Eigenschaften der Ebene (und des dreidimensionalen Raums) formalisieren. Auch wenn Euklids Ausführungen nicht den heutigen formalen Ansprüchen genügen (eine modernere Variante ist Hilberts Axiomensystem), wird das Prinzip der axiomatischen Methode bei Euklid sehr gut sichtbar.

  3. Die Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre (kurz ZFC), die nach E. Zermelo und A. Fraenkel benannt ist, ist ein Axiomensystem für den Begriff der Menge. Damit lässt sich praktisch die gesamte heutige Mathematik beschreiben. Das C in ZFC steht für die Hinzunahme des Auswahlaxioms (englisch axiom of choice) zu den anderen Axiomen, siehe Anhang B.1.

Ergänzung 3.1 Das Parallelenaxiom

Eines der Axiome der euklidischen Geometrie ist das sogenannte Parallelenaxiom, das besagt, dass zu jeder Gerade und jedem Punkt, der nicht auf dieser Gerade liegt, genau eine Gerade existiert, die durch den Punkt geht und zu der ersten Gerade parallel ist. Das ist sicherlich eine Eigenschaft, die unserer Anschauung entspricht.

Es war lange Zeit nicht bekannt, ob das Parallelenaxiom schon aus den anderen Axiomen folgt (so dass man es nicht als Axiom hätte hinzufügen müssen). Die Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie hat aber gezeigt, dass dies nicht der Fall ist: Das Parallelenaxiom ist unabhängig von den anderen Axiomen.

Eine Empfehlung für ein Buch (in Romanform mit mathematischen Einschüben) zu diesem Thema: G. Suri, H. S. Bal, Eine gewisse Ungewissheit oder Der Zauber der Mathematik, DuMont 2008. (oder das englische Original: A certain ambiguity. A Mathematical Novel, Princeton Univ. Press, 2nd ed., 2010).

Für den formal korrekten Aufbau der Theorie ist es sinnvoll, an dieser Stelle auch zu formalisieren, was man unter einem Beweis, also unter den oben angesprochenen »offensichtlich« korrekten Schlussweisen versteht. Der üblicherweise gewählte Ansatz ist die sogenannte Prädikatenlogik erster Stufe.

In dieser Vorlesung werden wir aber darauf verzichten, das Axiomensystem auszuformulieren (das oben erwähnte ZFC ist eine Möglichkeit, die für die Vorlesungen Lineare Algebra 1+2 und die meisten (wahrscheinlich: alle) anderen Vorlesungen, die Sie in Ihrem Studium hören werden, ausreicht). 1

Stattdessen werden wir mit einem »naiven« Mengenbegriff arbeiten. Sie müssen sich sozusagen darauf verlassen, dass alle Operationen, die wir mit Mengen ausführen, auch innerhalb von ZFC erlaubt sind (oder sich eigenständig die Mühe machen, das nachzuprüfen; es ist aber nicht unbedingt eine gute Idee, das zu Beginn des Studiums zu tun). Wir werden auch darauf verzichten, die erwähnte Prädikatenlogik ganz formal einzuführen, aber die nötigen Begriffe in Abschnitt 3.7 in der Form bereitstellen, wie wir sie verwenden werden. (Und fast alle anderen Lehrbücher machen es genauso.)

If logic is the hygiene of the mathematician, it is not his source of food; the great problems furnish the daily bread on which he thrives.

André Weil, The future of mathematics,
American Mathematical Monthly, May 1950

Auch wenn man sich an dieser Stelle mehr Zeit nehmen würde, wären die Beweise im Hauptteil des Textes genauso geschrieben, wie hier. Dieser Formalismus (hat zwar im Gesamtbild seine Berechtigung, aber) hilft nicht beim Verständnis der Linearen Algebra.

Außerdem: Irgendwo muss man anfangen – selbst bei maximaler Formalisierung muss man auch auf einer Meta-Ebene arbeiten, die man nicht in gleichem Maße formalisieren kann. Man kann eben vor der allerersten Definition nicht schon definiert haben, was man unter einer Definition versteht. Darüberhinaus gibt es auch tiefliegendere Einschränkungen an die vollständige Formalisierung der mathematischen Theorie (Stichwort: Gödelscher Unvollständigkeitssatz). Diese Phänomene werden in der mathematischen Logik genauer untersucht. Dort analysiert man auch die »Beweiskraft« verschiedener formaler Systeme.

Das Grundprinzip, dass alle Aussagen auf die zu Beginn vorausgesetzten Axiome zurückgeführt werden können und dass jede Behauptung mit einer vollständigen und fehlerfreien Argumentation begründet werden muss, ist aber auch in diesem Text fundamental.

  1. ZFC ist das Axiomensystem, das heutzutage (und seit langem) fast standardmäßig als »Grundlage der Mathematik« verwendet wird. Als Fußnote sei aber angemerkt, dass es Alternativen gibt, die sich in unterschiedlichen Aspekten von ZFC unterscheiden. Man müsste aber wesentlich weiter ausholen, um das zu diskutieren.