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6.6 Konstruierbarkeit mit Zirkel und Lineal

Mithilfe der Galois-Theorie können wir das Kriterium für Konstruierbarkeit mit Zirkel und Lineal, das wir in Satz 4.42 bewiesen haben, noch konkreter fassen. Wir verwenden die Notation aus Abschnitt 4.5.

Satz 6.43

Für \(\alpha \in \mathbb C\) sind äquivalent:

  1. Es gilt \(\alpha \in \mathbb K\), d.h. \(\alpha \) ist ausgehend von \(0\) und \(1\) konstruierbar mit Zirkel und Lineal.

  2. Es gibt eine endliche Kette

    \[ \mathbb Q= K_0 \subset K_1\subset \cdots \subset K_r \]

    von Körpererweiterungen, so dass \([K_i : K_{i-1}] = 2\) für alle \(i=1, \dots , r\) gilt und \(\alpha \in K_r\) ist.

  3. Es gibt eine Galois-Erweiterung \(\left.K\middle /\mathbb Q\right.\) mit \(\alpha \in K\), deren Grad eine Potenz von \(2\) ist.

  4. Die normale Hülle von \(\mathbb Q(\alpha )\) über \(\mathbb Q\) hat als Grad über \(\mathbb Q\) eine Potenz von \(2\).

Beweis

Die Äquivalenz von (i) und (ii) haben wir bereits in Satz 4.42 bewiesen. Wenn (ii) gilt, dann erhalten wir für jeden Homomorphismus \(\sigma \colon K_r\to \overline{\mathbb Q}\) in den algebraischen Abschluss von \(\mathbb Q\) in \(\mathbb C\) durch Anwenden von \(\sigma \) auf alle \(K_i\) eine Kette von Zwischenkörpern der Erweiterung \(\left.\sigma (K_r)\middle /\mathbb Q\right.\), deren einzelne Schritte alle Grad \(2\) haben. Damit folgt, dass für das Kompositum aller \(\sigma (K_r)\), also den kleinsten Teilkörper von \(\overline{\mathbb Q}\), der alle \(\sigma (K_r)\) enthält, eine ebensolche Kette existiert. Aber dieses Kompositum ist genau die normale Hülle von \(K_r\) über \(\mathbb Q\), also galoissch über \(\mathbb Q\). Mit der Gradformel folgt die Aussage in (iii).

Ist andererseits (iii) gegeben, so können wir eine Kette von Untergruppen in der Galoisgruppe \(\operatorname{Gal}(\left.K\middle /\mathbb Q\right.)\) finden, so dass die Indizes zwischen aufeinanderfolgenden Untergruppem alle gleich \(2\) sind. Denn nach Voraussetzung ist die Galois-Gruppe eine \(2\)-Gruppe, so dass wir Satz 2.76 und Lemma 2.64 anwenden können. Nach dem Hauptsatz der Galois-Theorie entspricht dieser Kette von Untergruppen eine Kette von Zwischenkörpern wie in Aussage (ii).

Schließlich sind (iii) und (iv) äquivalent. Dass (iii) aus (iv) folgt, ist trivial. Gilt andererseits (iii), dann ist die normale Hülle von \(\mathbb Q(\alpha )\) über \(\mathbb Q\) ein Teilkörper von \(K\), und die Aussage folgt aus der Gradformel.

Es folgt auch, dass eine komplexe Zahl \(\alpha \in \mathbb C\), für die \([\mathbb Q(\alpha ):\mathbb Q]\) eine Potenz von \(2\) ist, nicht notwendig konstruierbar ist. Ist nämlich das Minimalpolynom von \(\alpha \) vom Grad \(4\) und mit Galois-Gruppe \(S_4\), dann ist \([\mathbb Q(\alpha ):\mathbb Q]=4\), aber die normale Hülle hat Grad \(24\) über \(\mathbb Q\).

Mit diesem allgemeinen Ergebnis können wir insbesondere das Problem lösen, für welche \(n\) das (im Einheitskreis einbeschriebene) regelmäßige \(n\)-Eck ausgehend von \(0\) und \(1\) konstruierbar ist.

Theorem 6.44

Sei \(n\ge 3\) eine natürliche Zahl. Dann sind äquivalent:

  1. Das regelmäßige \(n\)-Eck ist konstruierbar mit Zirkel und Lineal (d.h. \(\exp (\frac{2\pi i}{n})\in \mathbb K\)).

  2. Die Zahl \(\varphi (n)\) ist eine Potenz von \(2\) (wobei \(\varphi \) die Eulersche \(\varphi \)-Funktion bezeichnet, d.h. \(\varphi (n)\) ist die Anzahl der zu \(n\) teilerfremden Zahlen zwischen \(1\) und \(n\)).

Beweis

Wir schreiben \(\zeta := \exp (\frac{2\pi i}{n})\). Aus dem vorherigen Satz folgt, dass Aussage (i) äquivalent dazu ist, dass \([\mathbb Q(\zeta ):\mathbb Q]\) eine Potenz von \(2\) ist. Wir haben in Satz 6.22 berechnet, dass dieser Grad gleich \(\varphi (n)\) ist.

Mit dem Begriff der Fermatschen Primzahl können wir das Kriterium noch etwas griffiger formulieren.

Definition 6.45

Eine Primzahl der Form \(2^k+1\) mit \(k\in \mathbb N_{{\gt} 0}\) heißt Fermatsche Primzahl. Es ist dann notwendigerweise \(k\) selbst eine Potenz von \(2\). Wir schreiben \(F_r = 2^{2^r}+1\).

Zur Begründung der in der Definition gemachten Behauptung: Ist \(d\) ungerade, dann ist \(-1\) eine Nullstelle von \(X^d+1\), also \(X+1\) ein Teiler von \(X^d+1\) (in \(\mathbb Z[X]\)). Ist \(m\in \mathbb N_{{\gt} 0}\), so folgt, dass \(2^m+1\) ein Teiler von \((2^m)^d+1\) ist. Ist \(d {\gt} 1\), so handelt es sich um einen echten Teiler.

Die einzigen bekannten Fermatschen Primzahlen sind \(F_0 = 3\), \(F_1 = 5\), \(F_2 = 17\), \(F_3 = 257\) und \(F_4 = 65537\). Euler zeigte, dass \(2^{2^5}+1\) durch \(641\) teilbar und mithin keine Primzahl ist. Es ist ein offenes Problem, ob es weitere solche Primzahlen gibt, und ist auch nicht bekannt, ob es möglicherweise sogar unendlich viele Fermatsche Primzahlen gibt. Von \(F_{33}\) ist zurzeit nicht bekannt, ob es sich um eine Primzahl handelt; diese Zahl hat über zweieinhalb Milliarden Stellen. Weitere Informationen: Wikipedia

Korollar 6.46

Sei \(n\ge 3\) eine natürliche Zahl. Dann sind äquivalent:

  1. Das regelmäßige \(n\)-Eck ist konstruierbar mit Zirkel und Lineal (d.h. \(\exp (\frac{2\pi i}{n})\in \mathbb K\)).

  2. Die Zahl \(n\) hat die Form \(2^r p_1\cdot \cdots p_l\) mit \(r,l\ge 0\) und mit paarweise verschiedenen Fermatschen Primzahlen \(p_i\).

Beweis

Die \(\varphi \)-Funktion ist multiplikativ für teilerfremde Zahlen, d.h. für teilerfremde \(m, m'\) gilt \(\varphi (mm') = \varphi (m)\varphi (m')\). Für eine Primzahlpotenz \(p^r\) gilt \(\varphi (p^r) = (p-1)p^r\) (Lemma 2.44). Daraus folgt die Behauptung, indem wir \(n\) als Produkt von Potenzen paarweise verschiedener Primzahlen schreiben und das vorherige Ergebnis anwenden.

Wir sehen also, dass das regelmäßige \(5\)-Eck und das regelmäßige \(17\)-Eck konstruierbar sind, nicht jedoch das regelmäßige \(7\)-Eck.