4.5 Konstruierbarkeit mit Zirkel und Lineal
Die Frage nach der Konstruierbarkeit gewisser Größen ist eine klassische Frage der Mathematik, die schon im antiken Griechenland vor mehr als 2000 Jahren betrachtet wurde. Ein Konstruktionsproblem ist gegeben durch eine Menge von Punkten in der Ebene sowie die Aufgabe, daraus weitere Punkte mit vorgegebenen Eigenschaften nur mit einem (unmarkierten) Lineal und einem Zirkel zu konstruieren. Das Lineal kann also (nur) dazu verwendet werden, bereits konstruierte Punkte durch eine Gerade zu verbinden. Mit dem Zirkel kann man einen Kreis zeichnen, dessen Mittelpunkt bereits konstruiert ist und dessen Radius der Abstand zweier bereits konstruierter Punkte ist. Die Schnittpunkte der auf diese Art entstehenden Geraden und Kreise sind dann weitere konstruierte Punkte.
Zu den klassischen Konstruktionsproblemen gehören insbesondere die folgenden.
Quadratur des Kreises. Gegeben sind zwei verschiedene Punkte in der Ebene. Sei \(r\) ihr Abstand und \(A\) der Flächeninhalt des Kreises mit Radius \(r\). Man konstruiere, ausgehend von den beiden gegebenen Punkten, zwei Punkte, deren Abstand genau die Seitenlänge des zum Kreis flächengleichen Quadrats ist, also deren Abstand genau \(\sqrt{A} = r \sqrt{\pi }\) ist.
Verdoppelung des Würfels. Gegeben sind zwei verschiedene Punkte in der Ebene. Sei \(d\) ihr Abstand und \(V=d^3\) das Volumen des Würfels mit Seitenlänge \(d\). Man konstruiere, ausgehend von den beiden gegebenen Punkten, zwei Punkte, deren Abstand genau die Seitenlänge des Würfels ist, der das doppelte Volumen hat, also deren Abstand gleich \(d\sqrt[3]{2}\) ist.
Konstruktion des regelmäßigen \(n\)-Ecks. Sei \(n\in \mathbb N\), \(n\ge 3\). Gegeben sind zwei verschiedene Punkte \(P_0\ne P_1\) in der Ebene. Sei \(K\) der Kreis mit Mittelpunkt \(P_0\), deren Radius der Abstand zwischen \(P_1\) und \(P_0\) ist. Man konstruiere ausgehend von \(P_0\) und \(P_1\) mit Zirkel und Lineal \(n\) Punkte auf der Kreislinie \(K\), die die Eckpunkte eines regelmäßigen \(n\)-Ecks sind, die also den Kreis in \(n\) gleiche Abschnitte unterteilen.
Der Tag war der 29. März 1796, und der Zufall hatte gar keinen Anteil daran. [...] Durch angestrengtes Nachdenken über den Zusammenhang aller Wurzeln untereinander nach arithmetischen Gründen glückte es mir, bei einem Ferienaufenthalt in Braunschweig am Morgen des gedachten Tages (ehe ich aus dem Bette aufgestanden war) diesen Zusammenhang auf das klarste anzuschauen, so daß ich die spezielle Anwendung auf das 17-Eck und die numerische Bestätigung auf der Stelle machen konnte.
aus einem Brief von Gauß an C. L. Gerling, 1819
Die Relevanz dieser Fragestellung in der Algebra-Vorlesung ist natürlich nicht eine praktische Anwendung – niemand konstruiert »per Hand« mit Zirkel und Lineal ein regelmäßiges \(17\)-Eck. Noch weniger anwendungsrelevant ist die Tatsache, dass man beispielsweise ein regelmäßiges \(7\)-Eck nicht mit Zirkel und Lineal konstruieren kann.
Dennoch ist das Thema Standardstoff der Algebra-Vorlesung. Die Gründe, warum ich dem folge, sind diese:
Insbesondere die Ergebnisse, dass gewisse Konstruktionsprobleme unlösbar sind, sind faszinierende Beispiele »mathematischer Kreativität«. Zu zeigen, dass man beispielsweise ein regelmäßiges \(17\)-Eck konstruieren kann, ist vielleicht kompliziert, es ist aber klar, was am Ende des Beweises stehen wird: Eine Abfolge von einzelnen Konstruktionsschritten der oben beschriebenen Art, durch die man dann die gewünschte Konstruktion durchführen kann. Aber wie würde man zeigen, dass eine Konstruktionsaufgabe nicht lösbar ist?
Es zeigt sich hier eine verblüffende Verbindung zwischen Algebra und Geometrie. Punkte in der Ebene durch ihre Koordinaten zu beschreiben und damit »zu rechnen« (sagen wir im Sinne der Linearen Algebra) ist uns vertraut. Um Konstruierbarkeit zu verstehen, ist es aber nötig, weitere Methoden hinzuzunehmen. Es ist nützlich, die Ebene als die komplexe Zahlenebene zu betrachten, also mit dem Körper \(\mathbb C\) zu identifizieren. Wie wir sehen werden, bildet die Gesamtheit aller ausgehend von \(0\) und \(1\) konstruierbaren Punkte einen Teilkörper \(\mathbb K\) von \(\mathbb C\), auf den man die Theorie der Körpererweiterungen anwenden kann. Genauer handelt es sich bei \(\mathbb K\) um eine algebraische Erweiterung von \(\mathbb Q\). Eine über \(\mathbb Q\) transzendente Zahl kann also nicht konstruierbar (beginnend mit \(0\) und \(1\)) sein.
Das Problem ist historisch bedeutsam für Entwicklung der Mathematik und illustriert auch, dass auch nach langer Zeit ohne nennenswerten Fortschritt Lösungen für mathematische Probleme gefunden werden können, die auf neuen Einsichten beruhen (die sich oft in einer Art und Weise ergeben haben, die durch ganz andere Fragen motiviert war).
Nach dieser Vorbemerkung kommen wir zur formalen Definition. In allen drei oben genannten Problemen geht man von zwei gegebenen Punkten aus, und man überlegt sich leicht, dass es keine Rolle spielt, welche Punkte in der Ebene das sind. Wir können also ohne Einschränkung mit \(0\) und \(1\) beginnen.
Sei \(M\) eine Teilmenge von \(\mathbb C\). Wir bezeichnen mit \(M'\) dann die Menge aller komplexen Zahlen, die im folgenden Sinne in (höchstens) einem Schritt aus \(M\) mit Zirkel und Lineal konstruiert werden können, das heißt \(M'\) besteht aus
allen Elementen von \(M\),
allen Schnittpunkten von zwei verschiedenen Geraden, die jeweils durch zwei verschiedene Punkte auf \(M\) gehen,
allen Schnittpunkten einer Gerade und eines Kreises, wobei die Gerade durch zwei verschiedene Punkte von \(M\) verläuft und der Kreis als Mittelpunkt einen Punkte aus \(M\) und als Radius den Abstand zweier Punkte aus \(M\) hat und
allen Schnittpunkten von zwei verschiedenen Kreisen, deren Mittelpunkte Punkte aus \(M\) und deren Radien Abstände zweier Punkte aus \(M\) sind.
Sei nun \(M\) eine Teilmenge von \(\mathbb C\) mit \(0,1\in M\). Sei \(K_0 = M\) und für \(n\in \mathbb N_{{\gt}0}\) sei \(K_n = K'\! _{n-1}\) (im Sinne von Teil (1)). Dann heißt
\[ \mathbb K(M) := \bigcup _{n\in \mathbb N} K_n \]die Menge der (ausgehend von \(M\) mit Zirkel und Lineal) konstruierbaren Zahlen.
Im Fall \(M=\{ 0,1\} \) schreiben wir \(\mathbb K\) statt \(\mathbb K(\{ 0, 1\} )\) und nennen \(\mathbb K\) die Menge der mit Zirkel und Lineal konstruierbaren Zahlen.
Notationskonflikt: Man beachte, dass die Notation \(\mathbb K(M)\) nicht den über \(\mathbb K\) von \(M\) erzeugten Körper bezeichnet!
Mit anderen Worten ist \(\mathbb K(M) \subseteq \mathbb C\) die kleinste Teilmenge von \(\mathbb C\), die die folgenden Eigenschaften hat:
\(M\subseteq \mathbb K(M)\),
für je zwei unterschiedliche Geraden, die jeweils durch (mindestens) zwei verschiedene Punkte von \(\mathbb K(M)\) gehen, liegt auch deren Schnittpunkt in \(\mathbb K(M)\),
für jede Gerade, die durch (mindestens) zwei Punkte von \(\mathbb K(M)\) geht, und jeden Kreis, dessen Mittelpunkt in \(\mathbb K(M)\) liegt, und so dass der Radius gleich dem Abstand zweier Punkte in \(\mathbb K(M)\) ist, liegen auch die Schnittpunkte der Geraden und des Kreises in \(\mathbb K(M)\),
für je zwei unterschiedliche Kreise, deren Mittelpunkte in \(\mathbb K(M)\) liegen, und so dass die Radien jeweils gleich dem Abstand zweier Punkte in \(\mathbb K(M)\) sind, liegen auch die Schnittpunkte der Kreise in \(\mathbb K(M)\).
Man kann zeigen, dass man dieselbe Menge konstruierbarer Zahlen erhält, wenn man als Kreise in den Konstruktionsschritten nur solche Kreise erlaubt, deren Mittelpunkt bereits konstruiert ist und so dass ein bereits konstruierter Punkt auf der Kreislinie liegt. Man braucht also nicht zwingend die Möglichkeit, die wir in unserer Definition vorgesehen haben, den Zirkel auf den Abstand zweier Punkte »einzustellen« und dann einen dritten Punkt als Mittelpunkt zu nehmen. Stattdessen könnte man mit einem kollabierenden Zirkel arbeiten, der direkt »zusammenklappt«, wenn man ihn vom Zeichenblatt hochhebt.
Die Geraden und Kreise, die bei diesen Konstruktionsschritten auftreten, nennen wir auch konstruierbare Geraden bzw. Kreise. Sind \(A\ne B\) Punkte in der Ebene und \(r\in \mathbb R_{{\gt} 0}\), so sei \(d(A, B)\) ihr Abstand, \(AB\) die Strecke zwischen \(A\) und \(B\), \(g(A, B)\) die Gerade durch \(A\) und \(B\) und \(K(A, r)\) der Kreis mit Mittelpunkt \(A\) und Radius \(r\).
Einfache Beispiele für Konstruktionen mit Zirkel und Lineal sind:
Konstruiere die Mittelsenkrechte einer Strecke und damit den Mittelpunkt der Strecke zwischen zwei Punkten \(A\ne B\).
(\(K(A, d(A, B))\) und \(K(B, d(A, B))\) schneiden sich in zwei Punkten \(C, D\). Dann ist \(g(C, D)\) die Mittelsenkrechte der Strecke \(AB\) und der Schnittpunkt von \(g(A, B)\) und \(g(C, D)\) der Mittelpunkt dieser Strecke.)
Konstruiere die Senkrechte zu einer bereits konstruierten Gerade \(g\) durch einen Punkt \(P\), der nicht auf dieser Geraden liegt.
(Weil \(g\) schon konstruiert ist, gibt es einen konstruierten Punkt \(Q\), der auf \(g\) liegt. Seien \(Q, Q'\) die Schnittpunkte von \(K(P, d(P, Q))\) mit \(g\) und \(R\) der Mittelpunkt der Strecke \(QQ'\) (bzw. \(R=Q\) in dem Spezialfall, dass \(Q'=Q\), also \(Q\) der einzige Schnittpunkt von \(K(P, d(P, Q))\) mit \(g\) ist). Dann ist \(g(P, R)\) die gesuchte Gerade.)
Konstruiere die Parallele zu einer bereits konstruierten Gerade \(g\) durch einen bereits konstruierten Punkt \(P\).
(Konstruiere zuerst wie oben die Senkrechte \(h\) auf \(g\) durch \(P\). Sei \(R\) ihr Schnittpunkt mit \(g\). Konstruiere dann eine zu \(h\) parallele Gerade \(h'\) als Mittelsenkrechte zwischen zwei anderen Punkten auf \(g\). Sei \(R'\) der Schnittpunkt von \(g\) und \(h'\) und sei \(P'\) der Schnittpunkt von \(K(R', d(R, P))\) mit \(h'\), der auf derselben Seite von \(g\) liegt wie \(P\). Die Gerade, die \(P\) und \(P'\) verbindet, ist die gesuchte Parallele zu \(g\).)
Konstruiere zu einem bereits konstruierten Punkt \(P\) und einer Gerade \(g\) den Punkt \(P'\), der aus \(P\) durch Spiegelung an \(g\) entsteht.
(Der Punkt \(P'\) ist der Schnittpunkt der Senkrechten \(h\) auf \(g\) durch \(P\) und des Kreises mit Mittelpunkt gleich dem Schnittpunkt \(R\) von \(h\) und \(g\) und Radius \(d(P, R)\).)
Sei \(M\subseteq \mathbb C\) eine Teilmenge, die \(0\) und \(1\) enthält. Für \(\alpha \in \mathbb C\) sind äquivalent:
\(\alpha \in \mathbb K(M)\),
\(\overline{\alpha }\in \mathbb K(M)\),
Real- und Imaginärteil von \(\alpha \) liegen in \(\mathbb K(M)\).
Sei \(\alpha \in \mathbb K(M)\). Ist \(\alpha \in \mathbb R\), so ist für die Äquivalenz von (i) und (ii) nichts zu zeigen. Andernfalls können wir \(\overline{\alpha }\) aus \(\alpha \) durch Spiegelung an der Gerade \(\mathbb R= g(0,1)\) konstruieren.
Ist \(\alpha \in \mathbb K(M)\), so lassen sich Real- und Imaginärteil konstruieren, wenn man die Konstruktion der Senkrechten zur reellen bzw. imaginären Achse durch \(\alpha \) benutzt. Sind andererseits \(a, b\in \mathbb R\) konstruierbar, so ist \(ib\) einer der Schnittpunkte von \(K(0, \lvert b\rvert )\) mit der imaginären Achse \(g(0, i)\) (der Mittelsenkrechten der Strecke zwischen \(1\) und \(-1\)). Dann können wir die Parallele zur reellen Achse durch \(ib\) und die Parallele zur imaginären Achse durch \(a\) konstruieren. Ihr Schnittpunkt ist \(a+ib\).
Sei \(M\subseteq \mathbb C\) eine Teilmenge, die \(0\) und \(1\) enthält.
Die Menge \(\mathbb K(M)\) ist ein Teilkörper des Körpers der komplexen Zahlen.
Für alle \(\alpha \in \mathbb K(M)\) gilt \(\pm \sqrt{\alpha }\in \mathbb K(M)\).
Zu (1). Offenbar gilt \(0, 1\in \mathbb K(M)\). Es ist also zu zeigen, dass für Elemente \(a, b\in \mathbb K(M)\) auch die komplexen Zahlen
in \(\mathbb K(M)\) liegen. Wir arbeiten das nacheinander ab.
Summe: \(a+b\in \mathbb K(M)\). Seien zunächst \(a\) und \(b\) linear unabhängig über \(\mathbb R\) (also nicht auf derselben Ursprungsgeraden). Dann ist \(a+b\) einer der Schnittpunkte von \(K(a, d(0,b))\) und \(K(b, d(0,a))\).
Sind \(a\ne 0\) und \(b\) linear abhängig über \(\mathbb R\), dann ist \(a+b\) einer der Schnittpunkte von \(g(0,a)\) mit \(K(b, d(0,a))\).
Negatives: \(-a\in \mathbb K(M)\). Für \(a\ne 0\) ist \(-a\) der zweite Schnittpunkt (neben \(a\) selbst) von \(g(0,a)\) und \(K(0, d(0,a))\).
Produkt: \(ab\in \mathbb K(M)\). Vorbemerkung: Für \(a\in \mathbb K(M)\) gilt \(\lvert a\rvert \in \mathbb K(M)\). (Einer der Schnittpunkte von \(K(0, d(0,a))\) und \(g(0,1)=\mathbb R\).) Wir beweisen als nächstes die
Behauptung. Für \(a\in \mathbb K(M)\cap \mathbb R_{{\gt} 0}\), \(b\in \mathbb K(M)\) gilt \(ab\in \mathbb K(M)\) und \(a^{-1}\in \mathbb K(M)\).
Begründung. Sei \(g\) die Gerade \(g(0,b)\) und \(h\) irgendeine andere bereits konstruierte Ursprungsgerade. (Es ist leicht zu sehen, dass es eine solche gibt.) Sei \(P\) einer der Schnittpunkte von \(h\) mit dem Einheitskreis \(K(0, 1)\) und \(Q\) der Schnittpunkt von \(h\) mit dem Kreis \(K(0, d(0,a))\), der auf \(h\) auf derselben Seite des Ursprungs liegt, wie \(P\). Sei \(l\) die Parallele zu \(g(b, P)\) durch \(Q\). Dann ist nach dem ersten Strahlensatz \(ab\) der Schnittpunkt von \(g\) mit \(l\).
Für die Konstruktion von \(a^{-1}\) können wir ebenfalls den Strahlensatz anwenden. Sei \(g = g(0,1)=\mathbb R\) die reelle Achse, sei \(h\) eine andere Ursprungsgerade, sei \(P\) einer der Schnittpunkte von \(K(0,1)\) mit \(h\) und \(Q\) der Schnittpunkt von \(h\) mit dem Kreis \(K(0, d(0,a))\), der auf \(h\) auf derselben Seite des Ursprungs liegt wie \(P\). Dann ist \(a^{-1}\) nach dem ersten Strahlensatz der Schnittpunkt der Parallelen zu \(g(Q,1)\) durch \(P\) mit \(g\).
Für den allgemeinen Fall genügt es angesichts der Vorbemerkung und der soeben bewiesenen Behauptung, den Fall \(\lvert a\rvert = \lvert b\rvert = 1\) zu betrachten. In diesem Fall liegen \(a\), \(b\) und \(a+b\) auf dem Einheitskreis und man kann \(a+b\) aus \(a\) und \(b\) durch »Winkeladdition« konstruieren, was einfach ist. Alternativ kann man Real- und Imaginärteil des Produkts als Produkte/Summen/Differenzen in Termen der Real- und Imaginärteile der Faktoren ausdrücken.
Multiplikatives Inverses: \(a^{-1}\in \mathbb K(M)\). Nach obigem ist ohne Einschränkung \(\lvert a\rvert = 1\), also \(a^{-1}=\overline{a}\), und die Konstruierbarkeit von \(\overline{a}\) haben wir bereits gezeigt.
Zu (2). Zur Konstruktion der Quadratwurzel einer Zahl \(a\in \mathbb K(M)\) können wir wieder die Fälle \(\lvert a \rvert = 1\) und \(a\in \mathbb R_{{\gt} 0}\) separat behandeln. Für den ersten Fall genügt es zu bemerken, dass sich die Winkelhalbierende des Winkels zwischen der reellen Achse und der Ursprungsgerade durch \(a\) konstruieren lässt, was nicht schwierig ist.
Sei nun \(a\in \mathbb K(M)\cap \mathbb R_{{\gt} 0}\). Sei \(M = \frac{1-a}{2}\) der Mittelpunkt der Strecke zwischen \(-a\) und \(1\) und sei \(K=K(M, \frac{a+1}{2})\) der Kreis um \(M\), auf dem \(-a\) und \(1\) liegen. Sei \(P\) ein Schnittpunkt von \(K\) mit der imaginären Achse \(g(0, i)\). Nach dem Satz des Thales ist das Dreieck mit den Eckpunkten \(-a\), \(1\) und \(P\) rechtwinklig (mit dem rechten Winkel bei \(P\)). Nach dem Höhensatz für rechtwinklige Dreiecke ist \(d(0,P) = \sqrt{a}\), also ist \(\sqrt{a}\) als einer der Schnittpunkte von \(K(0, d(0,P))\) mit \(\mathbb R\) in \(\mathbb K(M)\).
Für den Fall \(M=\{ 0, 1\} \) erhalten wir also:
Die Menge \(\mathbb K\) ist ein Teilkörper des Körpers der komplexen Zahlen.
Für alle \(\alpha \in \mathbb K\) gilt \(\pm \sqrt{\alpha }\in \mathbb K\).
Um die Elemente von \(\mathbb K\) zu charakterisieren, ist entscheidend, dass sich Schnittpunkte von Geraden und Kreisen durch das Lösen linearer oder quadratischer Gleichungen bestimmen lassen. Genauer gilt das folgende Lemma.
Sei \(K\subset \mathbb C\) ein Teilkörper, der unter der komplexen Konjugation auf sich selbst abgebildet wird und die Zahl \(i\) enthält. Sei \(x\in \mathbb C\) eine ausgehend von \(K\) in einem Schritt konstruierbare komplexe Zahl (also \(x\in K'\) mit der Schreibweise von Definition 4.36).
Dann existiert eine Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) vom Grad \(\le 2\) mit \(x\in L\).
Weil \(K\) unter der Konjugation auf sich selbst abgebildet wird und \(i\) enthält, sind mit jedem \(\alpha \in K\) auch der Realteil \(\frac12(\alpha +\overline{\alpha })\) und der Imaginärteil \(\frac{1}{2i}(\alpha -\overline{\alpha })\) Elemente von \(K\). Außerdem ist auch \(\lvert \alpha \rvert ^2 = \alpha \overline{\alpha }\in K\).
Wenn \(x\) der Schnittpunkt von zwei Geraden ist, die jeweils durch zwei Punkte aus \(M\) verlaufen, dann ist \(x\in \mathbb C=\mathbb R^2\) die eindeutig bestimmte Lösung eines linearen Gleichungssystems, dessen Koeffizienten durch Real- und Imaginärteil der Punkte auf diesen Geraden ausgedrückt werden können, liegt also sogar in \(K\).
Ist \(x\) der Schnittpunkt einer konstruierbaren Geraden und eines konstruierbaren Kreises oder der Schnittpunkt zweier konstruierbarer Kreise, dann ist \(x\in \mathbb C=\mathbb R^2\) eine der Lösungen eines Gleichungssystems in zwei Unbestimmten, das aus einer linearen und einer quadratischen Gleichung oder aus zwei quadratischen Gleichungen besteht. Die Koeffizienten dieser Gleichungen liegen dabei in \(K\). Zum Beispiel ist der Kreis um \(M = M_1 + iM_2\) mit Radius \(r\in \mathbb R_{{\gt} 0}\) (mit \(r^2\in K\)) gegeben durch die Gleichung
mit Koeffizienten in \(K\). In beiden Fällen sieht man (durch Einsetzen bzw. indem man die beiden Kreisgleichungen voneinander abzieht), dass sich Real- und Imaginärteil der Schnittpunkte durch Lösen einer quadratischen Gleichung »finden lassen«, genauer, dass sie in einem Erweiterungskörper \(L\) von \(K\) mit \([L:K]\le 2\) liegen, und dann liegt auch \(x\) in \(L\).
Sei \(M\subseteq \mathbb C\) eine Teilmenge, die \(0\) und \(1\) enthält, und sei \(K_0 = \mathbb Q(M\cup \overline{M})\). Für \(\alpha \in \mathbb C\) sind äquivalent:
Die Zahl \(\alpha \) ist ausgehend von \(M\) in endlich vielen Schritten konstruierbar mit Zirkel und Lineal.
Es gibt eine endliche Kette
\[ \mathbb Q(M\cup \overline{M}) = K_0 \subset K_1\subset \cdots \subset K_r \]von Körpererweiterungen, so dass \([K_i : K_{i-1}] = 2\) für alle \(i=1, \dots , r\) gilt und \(\alpha \in K_r\) ist.
(i) \(\Rightarrow \) (ii). Wir zeigen die folgende Behauptung, aus der (ii) dann durch Induktion folgt. (Weil die Erweiterung \(\left.K_0(i)\middle /K_0\right.\) Grad \(\le 2\) hat, können wir \(K_1 = K_0(i)\) setzen und von dort die Induktion beginnen.)
Behauptung. Sei \(K\subseteq \mathbb C\) ein Teilkörper, der unter komplexer Konjugation stabil ist und die Zahl \(i\) enthält. Sei \(x\in K'\), also \(x\) in einem einzigen Schritt aus \(K\) konstruierbar. Dann existiert eine Kette \(K \subseteq L_1\subseteq L_2\) von Erweiterungen vom Grad \(\le 2\), so dass \(x\in L_2\) und \(\overline{L_2} = L_2\) gilt.
Begründung. Sei \(L_1 = K(x)\). Dann gilt nach dem vorherigen Lemma \([L_1:K]\le 2\). Wir setzen nun \(L_2 = L_1(\overline{x})\). Die Erweiterung \(K(\overline{x})\) hat über \(K\) denselben Grad wie \(K(x)\), denn aus dem Minimalpolynom von \(x\) über \(K\) erhalten wir die komplexe Konjugation der Koeffizienten das Minimalpolynom von \(\overline{x}\) über \(K\) (denn dieses Polynom hat ja wieder Koeffizienten in \(K\)). Insbesondere gilt \([L_2:L_1]\le [K(\overline{x}):K]\le 2\). Außerdem ist \(\overline{L_2} = \overline{K(x,\overline{x})} =L_2\).
(ii) \(\Rightarrow \) (i). Weil alle Elemente von \(\mathbb Q\) konstruierbar sind, genügt es zu zeigen, dass jede komplexe Zahl \(x\), die eine Gleichung der Form \(x^2 + px +q=0\) mit konstruierbaren Zahlen \(p\), \(q\) erfüllt, selbst konstruierbar ist. Aber das folgt angesichts von Satz 4.39 aus der Lösungsformel für diese quadratische Gleichung.
Im Fall \(M=\{ 0,1\} \), der uns am meisten interessiert, erhalten wir also die folgende Beschreibung.
Für \(\alpha \in \mathbb C\) sind äquivalent:
Es gilt \(\alpha \in \mathbb K\), d.h. \(\alpha \) ist ausgehend von \(0\) und \(1\) konstruierbar mit Zirkel und Lineal.
Es gibt eine endliche Kette
\[ \mathbb Q= K_0 \subset K_1\subset \cdots \subset K_r \]von Körpererweiterungen, so dass \([K_i : K_{i-1}] = 2\) für alle \(i=1, \dots , r\) gilt und \(\alpha \in K_r\) ist.
Insbesondere erhalten wir direkt das folgende Korollar:
Die Erweiterung \(\left.\mathbb K\middle /\mathbb Q\right.\) ist algebraisch. Ist \(\alpha \in \mathbb K\), so ist \([\mathbb Q(\alpha ) : \mathbb Q]\) eine Potenz von \(2\).
Die Umkehrung ist nicht richtig und wir werden den Sachverhalt zum Ende der Vorlesung noch genauer klären, siehe Abschnitt 6.6.
Die »Verdoppelung des Würfels« mit Zirkel und Lineal ist unmöglich.
Ausgehend vom Würfel mit der Kantenlänge \(1\) ist als Kantenlänge des Würfels mit dem doppeltem Volumen, also mit Volumen \(2\) die Zahl \(\sqrt[3]{2}\) zu konstruieren. Weil \([\mathbb Q[\sqrt[3]{2}] : \mathbb Q] = 3\) gilt, ist aber \(\sqrt[3]{2}\) nicht in einem Erweiterungskörper von \(\mathbb Q\) enthalten, dessen Grad eine Potenz von \(2\) ist, liegt also nicht in \(\mathbb K\).
Die Bewohner der Insel Delos befragten ein Orakel, um von Plagen befreit zu werden. Sie erhielten als Antwort, dass Sie im Apollo-Tempel einen neuen Altar bauen sollten, der wie der bisherige würfelförmig sei, aber genau das doppelte Volumen habe.
Theon von Smyrna in seiner Schrift Das an mathematischem Wissen für
die Lektüre Platons Nützliche, ca. 100 n. Chr.
Diese Geschichte findet man auch bei Eratosthenes und bei Plutarch.
Das Problem der Würfelverdoppelung mit Zirkel und Lineal heißt auch
Die folgenden Beispiele waren schon in der Antike bekannt. Teil (1) ist einfach, Teil (2) schon etwas kniffliger (Übung…).
Das regelmäßige Sechseck (mit dem Einheitskreis als Umkreis) ist konstruierbar mit Zirkel und Lineal.
Das regelmäßige Fünfeck (mit dem Einheitskreis als Umkreis) ist konstruierbar mit Zirkel und Lineal.
4.5.1 Die Quadratur des Kreises
Dass die Quadratur des Kreises nicht möglich ist, beruht auf dem folgenden Satz, den Ferdinand Lindemann 1882 bewies.
Die Kreiszahl \(\pi \in \mathbb C\) ist transzendent über \(\mathbb Q\).
Die »Quadratur des Kreises« mit Zirkel und Lineal ist nicht möglich.
Ein zum Einheitskreis flächengleiches Quadrat hat Kantenlänge \(\sqrt{\pi }\). Weil \(\pi \) über \(\mathbb Q\) transzendent ist, gilt das erst recht für \(\sqrt{\pi }\). Die Erweiterung \(\left.\mathbb K\middle /\mathbb Q\right.\) ist aber algebraisch und kann daher die Zahl \(\sqrt{\pi }\) nicht enthalten.