6.7 Das quadratische Reziprozitätsgesetz *
Das quadratische Reziprozitätsgesetz ist ein berühmter Satz aus der Zahlentheorie, der eine verblüffende Gesetzmäßigkeit über die Frage aussagt, welche quadratischen Gleichungen über endlichen Körpern der Form \(\mathbb F_p\), \(p\) eine Primzahl, lösbar sind, oder genauer: Welche Elemente von \(\mathbb F_p\) »Quadratzahlen«, also von der Form \(a^2\) für ein \(a\in \mathbb F_p\) sind.
6.7.1 Das Legendre-Symbol und das quadratische Reziprozitätsgesetz
Um zu untersuchen, welche Elemente eines endlichen Körpers Quadrate sind, bemerken wir zunächst, dass das für das Element \(0=0^2\) offenbar stets der Fall ist, so dass wir nur Elemente von \(\mathbb F_p^\times \) betrachten müssen. Der Fall \(p=2\) ist auch klar (sowohl \(0\) als auch \(1\) sind Quadrate) und unterscheidet sich ein bisschen von den anderen Fällen, so dass wir nun \(p {\gt} 2\) voraussetzen. Die Abbildung
ist ein Gruppenhomomorphismus mit Kern \(\{ 1, -1\} \), und wir sehen, dass genau die Hälfte der Elemente von \(\mathbb F_p^\times \) im Bild \((\mathbb F_p^\times )^2\) dieser Abbildung liegt, also das Quadrat eines Elements ist. Da \(x^{p-1}=1\) für alle \(x\in \mathbb F_p^\times \) gilt, folgt für \(x\in (\mathbb F_p^\times )^2\), etwa \(x=a^2\), dass
Das Polynom \(X^{\frac{p-1}{2}}-1\) hat aber höchstens \(\frac{p-1}{2}\) Nullstellen, daher haben nur die Quadrate \(x\) in \(\mathbb F_p^\times \) die Eigenschaft \(x^{\frac{p-1}{2}} = 1\); ist \(x\in \mathbb F_p^\times \setminus \mathbb F_p^{\times 2}\), so muss \(x^{\frac{p-1}{2}} = -1\) gelten (denn das Quadrat von \(x^{\frac{p-1}{2}}\) ist ja \(=1\)). Damit haben wir bewiesen:
Sei \(p\) eine ungerade Primzahl. Ein Element \(x\in \mathbb F_p^\times \) ist genau dann ein Quadrat in \(\mathbb F_p^\times \), wenn \(x^{\frac{p-1}{2}} = 1\) gilt.
Dieses Lemma motiviert die folgende Definition.
Sei \(p\) eine ungerade Primzahl und \(x\in \mathbb F_p^\times \). Wir definieren das Legendre-Symbol durch
(Der Wert des Legendre-Symbols soll per Definition in \(\mathbb Z\) oder einfach in der multiplikativen Gruppe \(\{ 1, -1\} \) liegen, d.h. \(1\) und \(-1\) werden hier nicht als Elemente eines endlichen Körpers betrachtet, weil wir später darüber sprechen wollen, wann Legendre-Symbole zu unterschiedlichen Primzahlen gleich sind.)
Für ganze Zahlen \(x\), die zu \(p\) teilerfremd sind, definieren wir das Legendre-Symbol, indem wir die obigen Definition auf die Restklasse von \(x\) in \(\mathbb F_p\) anwenden.
Hier ist also das Symbol \(\left( \frac xp \right)\) als Gesamtpaket zu lesen – zwischen den Klammern steht keine Bruchzahl! Und deswegen kann man die Klammern natürlich auch nicht weglassen, weil sonst Verwirrung vorprogrammiert wäre. Weil wir das Legendre-Symbol als ganze Zahl betrachten, ist für \(x\in \mathbb F_p^\times \) der Ausdruck \(x^{\frac{p-1}{2}}\) (ein Element in \(\mathbb F_p\)) nicht gleich dem Legendre-Symbol, aber kongruent modulo \(p\) und daher eindeutig durcheinander bestimmt (weil \(p\) ungerade ist, gilt ja \(1\ne -1\) in \(\mathbb F_p\)).
Man kann die Definition des Legendre-Symbols auf den Fall ausdehnen, dass \(x\) ein Vielfaches von \(p\) ist (dann definiert man den Wert des Symbols als \(0\)), aber für uns spielt das keine Rolle. Weitere Verallgemeinerungen, die nützlich sind, wenn man Legendre-Symbole mit Hilfe des quadratischen Reziprozitätsgesetzes tatsächlich ausrechnen möchte, sind das Jacobi- und das Kronecker-Symbol.
Aus der Definition und der vorherigen Diskussion erhalten wir sofort die folgenden einfachen Eigenschaften des Legendre-Symbols.
Sei \(p\) eine ungerade Primzahl. Seien \(a, b\in \mathbb Z\) zu \(p\) teilerfremd.
Das Legendre-Symbol ist multiplikativ, d.h. es gilt \(\left(\frac ap\right)\, \left(\frac bp\right) = \left(\frac{ab}{p}\right)\).
Es gilt \(\left( \frac1p\right)=1\).
Das schon angekündigte quadratische Reziprozitätsgesetz stellt eine a priori völlig überraschende Beziehung zwischen den Legendre-Symbolen zu verschiedenen ungeraden Primzahlen her.
Seien \(p\ne q\) ungerade Primzahlen. Dann gilt
Den Beweis geben wir weiter unten (genauer: einen von sehr vielen, und zwar einen, der Methoden der Galois-Theorie benutzt und dadurch »erhellender« ist als zum Beispiel der rein gruppentheoretische Beweis, den Sie in Ergänzung LA1.8.62 finden).
Zusammen mit den »Ergänzungssätzen« (Theorem 6.52) und der Multiplikativität des Legendre-Symbols kann man damit Legendre-Symbole mit geringem Aufwand ausrechnen (siehe Beispiel 6.54). Hauptsächlich liegt aber die Bedeutung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes darin, dass hier eine zahlentheoretische Struktur sichtbar wird, deren besseres Verständnis und geeignete Verallgemeinerungen seit seiner Entdeckung (Euler hat diesen Satz um 1750 vermutet, Gauß konnte ihn als erster um 1800 beweisen) ein Antriebsmotor für die Entwicklung der Zahlentheorie gewesen ist und weiterhin ist.
6.7.2 Der quadratische Zwischenkörper von \(\left.\mathbb Q(\zeta _p)\middle /\mathbb Q\right.\)
Sei \(p {\gt} 2\) eine Primzahl und sei \(\zeta _p\in \overline{\mathbb Q}\) eine primitive \(p\)-te Einheitswurzel. Die Körpererweiterung \(\left.\mathbb Q(\zeta _p)\middle /\mathbb Q\right.\) besitzt einen eindeutig bestimmten Zwischenkörper \(E\) mit \([E:\mathbb Q]=2\), und zwar ist dies der Körper \(\mathbb Q(\sqrt{p^\ast })\) mit
Sei \(\zeta \) eine primitive \(p\)-te Einheitswurzel über \(\mathbb Q\). Es gilt \(\operatorname{minpol}_{\zeta ,\mathbb Q} = X^{p-1} + \cdots + 1\) (siehe Beispiel 3.55). Wir haben gesehen, dass \(G:=\operatorname{Gal}(\left.\mathbb Q(\zeta )\middle /\mathbb Q\right.)\cong (\left.\mathbb Z\middle /p\right.)^\times \) gilt (Satz 6.22), und dies ist eine zyklische Gruppe (Korollar 2.49). Insbesondere gibt es in \(G\) genau eine Untergruppe vom Index \(2\). Dies übersetzt sich mit dem Hauptsatz der Galois-Theorie in die Tatsache, dass die Erweiterung \(\left.\mathbb Q(\zeta )\middle /\mathbb Q\right.\) einen eindeutig bestimmten Zwischenkörper \(E\) mit \([E:\mathbb Q]=2\) besitzt.
Um \(E\) zu bestimmen, versuchen wir, ein Element \(\alpha \in E\) »explizit« anzugeben, das nicht in \(\mathbb Q\) liegt, aber so dass das Quadrat \(\alpha ^2\) eine rationale Zahl ist. Offenbar gilt dann \(E=\mathbb Q(\alpha )\). Statt das Ergebnis »vom Himmel fallen zu lassen«, wollen wir uns an dieser Stelle etwas mehr Zeit nehmen und illustrieren, wie man (mit genügend Ausdauer und den richtige Ideen …) darauf kommen könnte.
Wir bezeichnen mit \(H\subseteq G\) die eindeutig bestimmte Untergruppe von \(G\) vom Index \(2\) (unter dem Isomorphismus \(G\cong (\left.\mathbb Z\middle /p\right.)^\times \) entspricht \(H\) der Untergruppe \(\mathbb F_p^{\times 2}\) der Quadrate in \(\mathbb F_p^\times \)); hier sehen wir einen ersten Hinweis, dass die folgenden Untersuchungen einen Zugang zum Reziprozitätsgesetz geben könnten. Zuerst bemerken wir, dass wir die Elemente von \(E\) etwas expliziter angeben können als
Denn dass die rechte Seite in \(\mathbb Q(\zeta )^H\) liegt, ist klar, und ist \(z\in E\), so gilt \(z = \frac{1}{\# H}\sum _{\sigma \in H} \sigma (z)\). (Vergleiche Satz 6.13, aus dem die Inklusion \(\subseteq \), und damit die Gleichheit, für jede separable Körpererweiterung folgt, auch dann, wenn die Charakteristik die Ordnung \(\# H\) teilt.)
Sei \(\gamma \in G\) ein Erzeuger dieser zyklischen Gruppe. Die Galois-Gruppe \(\operatorname{Gal}(\left.E\middle /\mathbb Q\right.)\) hat zwei Elemente und wird vom Bild von \(\gamma \) erzeugt. Wir bezeichnen dieses Bild (das ja einfach die Einschränkung von \(\gamma \) auf \(E\) ist) ebenfalls mit \(\gamma \).
Wir wollen ein Element \(\alpha \) mit \(E=\mathbb Q(\alpha )\) und \(\alpha ^2 \in \mathbb Q\) angeben. Diese beiden Bedingungen sind zusammengenommen dazu äquivalent, dass \(\alpha \ne 0\) und \(\gamma (\alpha ) = -\alpha \) gilt, also dass \(\alpha \) ein Eigenvektor zum Eigenwert \(-1\) von \(\gamma \) ist, wenn wir diese Abbildung als \(\mathbb Q\)-Vektorraum-Homomorphismus auffassen. Nun gilt \(\gamma \ne \operatorname{id}\) und \(\gamma ^2 = \operatorname{id}\). Der Homomorphismus \(\gamma \) hat also Minimalpolynom \(X^2-1\) und ist diagonalisierbar mit den Eigenwerten \(1\) und \(-1\). Der Eigenraum zum Eigenwert \(1\) ist genau der Fixkörper von \(\gamma \), also \(\mathbb Q\). Der Eigenraum zum Eigenwert \(-1\) ist ein eindimensionaler Komplementärraum dazu. Insbesondere ist \(\alpha \) wie oben eindeutig bestimmt bis auf ein Skalar aus \(\mathbb Q^\times \). Konkret können wir den Eigenraum zum Eigenwert \(-1\) angeben als
Dies ist ein sehr spezieller Fall von Satz LA2.17.13. In der speziellen Situation hier genügt es auch zu bemerken, dass Elemente der Form \(z-\gamma (z)\) von \(\gamma \) auf ihr Negatives abgebildet werden und die Menge aller dieser Elemente ein Untervektorraum von \(E\) ist, der wegen \(\gamma \ne \operatorname{id}\) nicht \(0\) sein kann.
Um \(\alpha \in E\) mit \(E=\mathbb Q(\alpha )\) und \(\alpha ^2\in \mathbb Q\) anzugeben, genügt es also, irgendein \(z\in E\) zu finden, für das \(\alpha :=z-\gamma (z)\ne 0\) ist. Wir machen dazu, vergleiche die vorhergehende Überlegung, den Ansatz \(z = \sum _{\sigma \in H}\sigma (\zeta )\). Wenn wir das direkt mit dem Isomorphismus \(G\cong \mathbb F_p^\times \) übersetzen (unter dem \(H\) der Untergruppe \(\mathbb F_p^{\times 2}\) und daher die Nebenklasse \(\gamma H\) der Menge \(\mathbb F_p^\times \setminus \mathbb F_p^{\times 2}\) der Nicht-Quadrate entspricht), gelangen wir zu der Definition
Weil die Elemente \(\zeta ,\zeta ^2,\dots , \zeta ^{p-1}\) eine \(\mathbb Q\)-Basis von \(\mathbb Q(\zeta )\) bilden, ist klar, dass \(\alpha \ne 0\) gilt, also \(E=\mathbb Q(\alpha )\) und \(\alpha ^2 \in \mathbb Q\).
Wir wollen nun noch \(\alpha ^2\) ausrechnen. Wir werden sehen, dass \(\alpha ^2 = p^\ast \) gilt; damit ist dann der Satz bewiesen. Wir müssen also
berechnen. Wir benutzen dazu, dass das Legendre-Symbol multiplikativ ist und dass für fixiertes \(b\in \mathbb F_p^\times \) mit \(a\) auch \(ab\) die Menge \(\mathbb F_p^\times \) durchläuft (wir also per »Indexverschiebung« in jedem Summanden \(a\) durch \(ab\) ersetzen können) und dass trivialerweise \(\left(\frac{b^2}{p}\right)=1\) ist. Also erhalten wir
Für \(a\ne -1\) ist \(\zeta ^{a+1}\) wieder eine primitive \(p\)-te Einheitswurzel, also eine Nullstelle von \(X^{p-1}+\dots + X+1\); das bedeutet \(\sum _{b\in \mathbb F_p^\times } (\zeta ^{a+1})^b = -1\). Wir erhalten also
Schließlich benutzen wir noch, dass \(\sum _{a\in \mathbb F_p^\times }\left(\frac ap\right) = 0\) gilt, weil \(\mathbb F_p^\times \) ebenso viele Quadrate wie Nicht-Quadrate enthält. Damit folgt die Behauptung \(\alpha ^2 = \left(\frac{-1}{p}\right)p\).
6.7.3 Beweis des quadratischen Reziprozitätsgesetz
Wir benutzen dieselbe Notation wie im vorherigen Abschnitt. Seien jetzt \(p\ne q\) verschiedene ungerade Primzahlen. (Achtung: Hier ist also, anders als in Abschnitt 5.4, \(q\) nicht eine Potenz von \(p\)!) Sei wieder \(G = \operatorname{Gal}(\left.\mathbb Q(\zeta )\middle /\mathbb Q\right.)\), \(E = \mathbb Q(\sqrt{p^\ast })\) der eindeutig bestimmte quadratische Zwischenkörper von \(\left.\mathbb Q(\zeta )\middle /\mathbb Q\right.\) und \(H \subset G\) die Galois-Gruppe von \(\left.\mathbb Q(\zeta )\middle /E\right.\).
Um das quadratische Reziprozitätsgesetz zu beweisen, müssen wir eine Beziehung zwischen Quadraten in \(\mathbb F_p^\times \) und in \(\mathbb F_q^\times \) herstellen. Unser Zugang beruht darauf, die Gruppe \(\mathbb F_p^\times \) als die Galois-Gruppe \(G\) zu betrachen, und die Menge der Quadrate in \(\mathbb F_p^\times \) dementsprechend mit \(H\) zu identifizieren.
Die Aussage, dass \(\left(\frac qp\right) = 1\) ist, ist angesichts dieser Interpretation dazu äquivalent, dass der Homomorphismus \(\sigma _q\colon \mathbb Q(\zeta )\to \mathbb Q(\zeta )\) mit \(\sigma _q(\zeta ) = \zeta ^q\) in \(H\) liegt. Weil \(\mathbb Q(\zeta )^H = \mathbb Q(\alpha )\) ist, ist das wiederum dazu äquivalent, dass \(\sigma _q(\alpha )=\alpha \) gilt:
Um den Körper \(\mathbb F_q\) ins Spiel zu bringen, betrachten wir die Einschränkung von \(\sigma _q\) auf den Ring \(\mathbb Z[\zeta ] = \{ \sum _{i=0}^{p-2} a_i\zeta ^i;\ a_i\in \mathbb Z\} \cong \mathbb Z[X]/(X^{p-1}+\cdots +X+1)\). Weil \(\sigma _q(\zeta )\in \{ \zeta ,\zeta ^2, \dots , \zeta ^{p-1} \} \) gilt, erhalten wir tatsächlich einen Ringhomomorphismus \(\sigma _q\colon \mathbb Z[\zeta ]\to \mathbb Z[\zeta ]\). Durch Übergang zum Quotienten nach dem von \(q\) erzeugten Ideal erhalten wir
wobei \(\overline{\zeta }\) das Bild von \(\zeta \) in \(\mathbb Z[\zeta ]/(q)\), oder im Sinne des Isomorphimus mit der rechten Seite die Restklasse von \(X\) bezeichne. Entsprechend induziert \(\sigma _q\) einen Ringhomomorphismus
Weil \(a^q=a\) für alle \(a\in \mathbb F_q\) gilt, ist diese Abbildung einfach der \(q\)-Frobenius-Homomorphismus des Rings \(\mathbb F_q[\overline{\zeta }]\) (Beispiel 3.2), der jedes Element aus \(\mathbb F_q[\overline{\zeta }]\) auf seine \(q\)-te Potenz abbildet.
Sei \(\overline{\alpha }\) das Bild von \(\alpha \in \mathbb Z[\zeta ]\) in \(\mathbb F_q[\overline{\zeta }]\). Weil \(q\) ungerade ist und \(\overline{\alpha }^2\) die Restklasse von \(p^\ast \) in \(\mathbb F_q\), also von Null verschieden, ist, ist \(\overline{\alpha }\ne -\overline{\alpha }\). Deshalb gilt \(\sigma _q(\alpha )=\alpha \) genau dann, wenn \(\overline{\alpha }^q = \sigma _q(\overline{\alpha }) = \overline{\alpha }\) ist.
Aber die Gleichheit \(\overline{\alpha }^q = \overline{\alpha }\) ist äquivalent zu
in \(\mathbb F_q[\overline{\zeta }]\).
Nun wissen wir, dass \((p^\ast )^{\frac{q-1}{2}} \equiv \left(\frac{p^\ast }{q}\right)\mod q\) gilt. Insgesamt haben wir damit
und das ist genau die Behauptung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes.
… that it was only on reading it [Hermann Weyls Buch Algebraic Theory of Numbers] that I began to appreciate the beauty of the law of quadratic reciprocity to which I had earlier attached no importance.
R. Langlands,
https://publications.ias.edu/rpl/paper/2664.
Langlands hat seit Ende der 1960er Jahre das nunmehr sogenannte Langlands-Programm entwickelt, eine umfangreiche Theorie aus Vermutungen und Ergebnissen, von denen ein Kernpunkt die Verallgemeinerung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes ist. Er wurde dafür 2018 mit dem Abel-Preis ausgezeichnet. Schon davor wurden unter anderem im Rahmen der Klassenkörpertheorie erste Verallgemeinerungen dieses Resultats bewiesen.
6.7.4 Die Ergänzungssätze
Um für beliebige \(a\in \mathbb F_p^\times \) das Legendre-Symbol \(\left(\frac ap\right)\) zu berechnen, betrachten wir die Primfaktorzerlegung eines Repräsentanten von \(a\in \mathbb Z\). Damit ist die Berechnung reduziert auf die Berechnung von Legendre-Symbolen der Form \(\left(\frac qp\right)\) für ungerade Primzahlen \(q\ne p\) und der Form \(\left(\frac2p\right)\) und Form \(\left(\frac{-1}{p}\right)\).
Zur Berechnung von \(\left(\frac qp\right)\) können wir \(q\) durch seine Restklasse in \(\{ 1,\dots , p-1\} \) modulo \(p\) ersetzen (und gegebenenfalls diese in Primfaktoren zerlegen) bzw., falls \(q {\lt} p\) ist, das quadratische Reziprozitätsgesetz anwenden und dann zur Berechnung von \(\left(\frac pq\right)\) die Zahl \(p\) durch ihre Restklasse in \(\{ 1, \dots , q-1\} \) modulo \(q\) ersetzen. So führt man die Berechnung schrittweise auf die Berechnung von Legendre-Symbolen mit immer kleineren Zahlen zurück.
Die Fälle \(\left(\frac2p\right)\) und \(\left(\frac{-1}{p}\right)\) schließlich werden durch die sogenannten Ergänzungssätze behandelt.
Sei \(q\) eine ungerade Primzahl.
Es gilt
\[ \left( \frac{-1}{q}\right)=(-1)^{\frac{q-1}{2}}. \]Es gilt
\[ \left( \frac{2}{q}\right)=(-1)^{\frac{q^2-1}{8}}. \]
Wir könnten in diesem Satz natürlich die betrachtete Primzahl ebenso gut mit \(p\) statt mit \(q\) benennen (und so wird er auch meistens formuliert, weil eben nur eine Primzahl vorkommt und man dann standardmäßig zuerst den Buchstaben \(p\) benutzt), aber wir wählen hier das Symbol \(q\), damit die Analogie des Beweises von Teil (2) mit dem obigen Beweis des quadratischen Reziprozitätsgesetz selbst besser sichtbar wird.
Die Aussage von Teil (1) haben wir schon gesehen, sie ist hier nur noch einmal aufgelistet, weil diese Aussage traditionell als der erste Ergänzungssatz zum quadratischen Reziprozitätsgesetz bezeichnet wird.
Teil (2). Wir argumentieren ähnlich wie im Beweis des quadratischen Reziprozitätsgesetzes selbst. Statt einer \(p\)-ten Einheitswurzel betrachten wir nun die primitive \(8\)-te Einheitswurzel \(\zeta =e^{\frac{2\pi i}{8}}\in \mathbb C\) und den Körper \(\mathbb Q(\zeta )\). (Gewissermaßen ist einer der Knackpunkte des Beweises, dass man an dieser Stelle mit einer »zweiten Einheitswurzel« nichts ausrichten kann und eine geeignet größere, aber analoge, Erweiterung betrachten sollte, um »etwas sehen« zu können.) Die Körpererweiterung \(\left.\mathbb Q(\zeta )\middle /\mathbb Q\right.\) ist galoissch vom Grad \(4\) mit Galois-Gruppe \(\cong (\left.\mathbb Z\middle /8\right.)^\times \). (Die Gruppe \((\left.\mathbb Z\middle /8\right.)^\times \) ist nicht zyklisch, sondern isomorph zu \(\left.\mathbb Z\middle /2\right.\times \left.\mathbb Z\middle /2\right.\), denn alle Elemente \(\ne 1\) haben Ordnung \(2\).)
Es gilt \(\zeta = \frac{1+i}{\sqrt{2}}\), also \(\alpha :=\zeta + \zeta ^{-1} = \frac{1+i}{\sqrt{2}} + \frac{1-i}{\sqrt{2}} = \sqrt{2}\). Es ist also \(\mathbb Q(\sqrt{2})\) ein Zwischenkörper der Erweiterung \(\left.\mathbb Q(\zeta )\middle /\mathbb Q\right.\). Wir betrachten den Körperhomomorphismus \(\sigma _q\colon \mathbb Q(\zeta )\to \mathbb Q(\zeta )\) mit \(\zeta \mapsto \zeta ^q\) bzw. ähnlich wie vorher seine Einschränkung \(\sigma _q\colon \mathbb Z[\zeta ] \longrightarrow \mathbb Z[\zeta ]\). Sei außerdem \(\mathbb F_q[\overline{\zeta }]\) analog wie vorher der Quotient von \(\mathbb Z[\zeta ]\) nach dem von \(q\) erzeugten Ideal. Auf diesem Quotienten induziert \(\sigma _q\) den \(q\)-Frobenius-Homomorphismus \(x\mapsto x^q\). Sei \(\overline{\alpha }\) das Bild von \(\alpha =\sqrt{2}\) in \(\mathbb F_q[\overline{\zeta }]\).
Es ist also \(2\) ein Quadrat in \(\mathbb F_q^\times \) genau dann, wenn \(\overline{\alpha }^q=\overline{\alpha }\), oder äquivalent, wenn \(\sigma _q(\alpha )=\alpha \) gilt. Das wiederum entspricht der Bedingung \(\sigma _q\in \operatorname{Gal}(\left.\mathbb Q(\zeta )\middle /\mathbb Q(\alpha )\right.)\), und diese Untergruppe entspricht unter dem Isomorphismus \(\operatorname{Gal}(\left.\mathbb Q(\zeta )\middle /\mathbb Q\right.\cong (\left.\mathbb Z\middle /8\right.)^\times \) der Untergruppe \(\{ 1, -1\} \). Damit erhalten wir, dass \(\left(\frac2q\right)=1\) äquivalent ist zu der Bedingung, dass \(q\equiv 1\mod 8\) oder \(q\equiv -1\mod 8\). Das bedeutet aber genau, dass \(q+1\) oder \(q-1\) durch \(8\) teilbar ist, oder anders gesagt, dass \(\frac{q^2-1}{8}\) gerade ist.
Seien \(a, b, c\in \mathbb Z\), \(a\ne 0\). Dann existieren natürliche Zahlen \(p_0, n\in \mathbb N_{{\gt} 0}\), so dass die Lösbarkeit der quadratischen Gleichung \(ax^2+bx+c\) für Primzahlen \(p\ge p_0\) nur von der Restklasse von \(p\) modulo \(n\) abhängt. Die Frage der Lösbarkeit ist also sozusagen »periodisch in \(p\)«.
Ist \(K\) ein Körper mit Charakteristik \(\ne 2\) und \(\alpha x^2+\beta x + \gamma = 0\) eine quadratische Gleichung mit Koeffizienten in \(K\) (\(\alpha \ne 0\)), dann ist die Gleichung lösbar genau dann, wenn das Element \(\beta -4\alpha \gamma \) in \(K\) eine Quadratwurzel besitzt.
Wir wählen nun \(p_0\) so groß, dass \(p_0 {\gt} 2\) und alle Primteiler von \(b-4ac\) kleiner als \(p_0\) sind. Die gegebene Gleichung hat dann für \(p \ge p_0\) eine Lösung in \(\mathbb F_p\) genau dann, wenn \(\left(\frac{b-4ac}{p}\right) = 1\) gilt. Zerlegen wir \(b-4ac\) als Produkt von Primzahlen, so können wir dieses Legendre-Symbol mithilfe des quadratischen Reziprozitätsgesetzes schreiben als Produkt von Faktoren der folgenden Form (nicht alle müssen auftreten): \(- 1\), \(\left(\frac2p\right)\), \(\left(\frac pq\right)\) für Primzahlen \(q\), die \(b-4ac\) teilen und daher \(\le p_0\) sind.
Weil \(\left(\frac pq\right)\) nur von der Restklasse von \(p\) modulo \(q\) und \(\left(\frac2p\right)\) nur von der Restklasse von \(p\) modulo \(8\) abhängt (letzteres nach dem zweiten Ergänzungssatz), folgt die Behauptung.
Als konkretes Beispiel berechnen wir, ob \(23\) ein Quadrat modulo \(127\) ist. Man könnte natürlich die Restklassen von \(1^2\), \(2^2\), \(3^2\), …in \(\mathbb F_{127}\) berechnen und mit \(23\) vergleichen. Mit dem quadratischen Reziprozitätsgesetz geht es aber leichter. Mit der Rechnung
sehen wir, dass \(23\) kein Quadrat in \(\mathbb F_{127}\) ist. Mit der direkten Methode hätten wir alle Quadrate in \(\mathbb F_{127}\) berechnen müssen, um auszuschließen, dass \(23\) dabei ist.