2.2 Wozu Lineare Algebra?
2.2.1
Wozu man Lineare Algebra braucht (oder gebrauchen kann), lässt sich natürlich leichter jemandem erklären, der schon etwas über Lineare Algebra weiß (und am besten auch etwas über die Problemstellungen weiß, wo man eine Anwendung finden kann). Trotzdem dazu einige Bemerkungen. Die Lineare Algebra hat sich aus der Theorie der linearen Gleichungssysteme entwickelt, und so ist auch diese Vorlesung aufgebaut. Wir suchen also beispielsweise alle reellen Zahlen \(x\), \(y\), die die beiden Gleichungen
erfüllen. Diese Art von Fragestellung kennen Sie aus der Schule und haben wahrscheinlich keine Schwierigkeiten, die Lösungsmenge des Gleichungssystems zu bestimmen. Wir werden aber in Kürze Fragen stellen und Antworten kennenlernen, die über den Schulstoff weit hinausgehen.
Ich habe bey mir von Jugend auff eine unersättliche Begierde die Wahrheit gewiß zu erkennen und anderen zu dienen gefunden. Daher als ich bey Zeiten vernahm, daß man der Mathematick eine ungezweiffelte Gewißheit zuschreibe, und absonderlich die Algebra als eine richtige Kunst verborgene Wahrheiten zuentdecken rühme; Hingegen aus den so vielfältigen und wiedrigen Meinungen der Gelehrten in anderen Sachen, die zur Mathematick nicht gehören, und aus den steten Aenderung, die darinnen vorgenommen werden, mir auch dazumahl genung begreiflich war, daß es ausser der Mathematick an einer völligen Gewißheit meistentheils fehle; Erweckte bey mir die Begierde zur Warheit eine Liebe zur Mathematick und sonderlich eine Lust zur Algebra, um zusehen, was doch die Ursache sey, warum man in der Mathematick so große Gewissheit habe, und nach was vor Regeln man daselbst dencke, wann man verborgene Wahrheiten zum Vorscheine bringen will, damit ich mich desto sicherer bemühen möchte auch ausser der Mathematick dergleichen Gewißheit zu suchen …
Aus der Vorrede zu Mathematisches Lexicon, C. Wolffen, Leipzig 1716;
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Wenn Sie fragen »Wozu brauche ich das?«, dann hoffe ich, dass die erste Antwort ist: Weil es Sie interessiert, eine mathematische Theorie kennenzulernen. Oder genauer: Das Problemgebiet der Linearen Gleichungssysteme strukturell und systematisch kennenzulernen, daran zu sehen, wie Mathematik auf Hochschulniveau betrieben wird, offene Fragen kennenzulernen und eine Grundlage für das gesamte weitere Mathematikstudium zu legen.
In the broad light of day mathematicians check their equations and their proofs, leaving no stone unturned in their search for rigour. But, at night, under the full moon, they dream, they float among the stars and wonder at the miracle of the heavens. They are inspired. Without dreams there is no art, no mathematics, no life.
Michael Atiyah (NAMS Jan 2010 p.8)
Fundort: https://www.jmilne.org/math/
Ich werde versuchen, dieses Interesse zu erhalten und weiter zu nähren, indem ich im Skript an vielen Stellen optionale Ergänzungen einfüge, die Verbindungen zu anderen Bereichen der Mathematik und zu konkreten Fragen aufzeigen, die man mit Linearer Algebra lösen kann. In der »Vorlesung« selbst werden wir uns allerdings auf den Kernstoff konzentrieren. Wenn Ihnen das ausreicht, ist es völlig in Ordnung, wenn Sie diese Ergänzungen nicht weiter beachten. Wenn es Ihnen leichter fällt, sich durch den eigentlichen Stoff durchzubeißen, wenn Sie wissen, dass er auch zu etwas gut ist (und sich nicht darauf verlassen möchten, dass ich Ihnen das versichere), dann können Sie auf die Ergänzungen zurückgreifen, die Sie ansprechen.
2.2.2 Berufsbezug des Mathematikstudiums
Regelmäßig wird in den Umfragen zu den (Anfänger-)Vorlesungen ein größerer Berufsbezug gewünscht. In der Vorlesungsumfrage zu dieser Linearen Algebra 1 (WS 2020/21) wurde die Frage Ein Bezug zwischen Veranstaltungsinhalten und Berufsfeld bzw. Anwendung wird hergestellt. mit der Durchschnittsnote 3,3 bewertet. Ich kann gut verstehen, dass man schon (und vielleicht besonders) in den ersten Semestern darauf schaut, wohin die Reise beruflich nach dem Abschluss des Studiums gehen kann und ob das Mathematikstudium überhaupt eine gute Vorbereitung auf eine Berufstätigkeit ist. Zum Teil wird hier sicher auch eine zusätzliche Unsicherheit »von außen« erzeugt, weil es so schwierig ist, die Inhalte des Studiums Nicht-Mathematiker∗innen zu erklären.
Den konkreten Berufsbezug herzustellen, ist aus mehreren Gründen schwierig (Und aus meiner Sicht ist das auch nicht die Aufgabe eines Universitätsstudiums.)
Natürlich gibt es nur wenige Berufe, in denen man die Determinante oder die Eigenwerte einer Matrix ausrechnen muss (oder überhaupt wissen muss, was das ist). Das macht es auch schwierig, von den mathematischen Inhalten einen ganz *konkreten* Berufsbezug herzustellen.
Es gibt sehr viele und sehr verschiedene Berufe, die man als Mathematiker∗in ergreifen kann. Zuerst einmal gibt es natürlich den Unterschied zwischen Lehramtsstudium und Fachstudiengang. Aber auch wenn man sich auf Absolventen mit Bachelor-/Master-Abschluss einschränkt: Mit Mathematik kann man wirklich alles mögliche machen.
Darum kann ich den Berufsbezug auch im Vorlesungsskript nicht mal eben im Vorübergehen herstellen. Ich möchte aber versuchen zu begründen, dass das Mathematikstudium in hervorragender Weise auf das Berufsleben vorbereitet und ausgezeichnete und sehr vielseitige berufliche Perspektiven eröffnet.
Denn im Mathematikstudium werden viele Fertigkeiten eingeübt, die in jedem Beruf nützlich und wichtig sind – in den Vorlesungen, den Seminaren, dem Verfassen der Abschlussarbeiten … Zum Beispiel:
Schwierige Probleme systematisch zu analysieren, kreative Lösungen (unter genau definierten Rahmenbedingungen) zu finden und Lösungen auf ihre Korrektheit zu überprüfen.
Komplexe Sachverhalte korrekt und sehr präzise darzustellen, sowohl schriftlich als auch im Einzelgespräch und in Vorträgen vor einer Gruppe
Fragen zu stellen
Sich in neue Theorien selbständig einzuarbeiten
Durchhaltevermögen
(meistens) Englischkenntnisse – jedenfalls ist es häufig erforderlich, mathematische Texte auf Englisch zu lesen; je nach weiterer Spezialisierung hat man im Masterstudium vielleicht auch die Gelegenheit, selbst Vorträge auf Englisch zu halten,
Je nach Spezialisierung werden auch Kompetenzen erworben, die eine »konkretere« fachliche Natur haben (aber: diese Sachen kann man sich sonst auch nachträglich noch aneignen), beispielsweise
Programmieren
das Arbeiten mit Softwarepaketen aus Bereichen wie Numerik, Optimierung, Statistik
Methoden der Finanz-/Versicherungsmathematik
Gerade bei der ersten Liste kann man sicherlich die Frage stellen, ob es nicht möglich ist, sich diese Fähigkeiten auf direkterem Wege als durch ein Mathematikstudium anzueignen – vermutlich schon, auch wenn ich keine direkte Empfehlung auf Lager habe. Sicher gilt aber: Ein Mathematikstudium empfehle ich nur der/demjenigen, die sich für die mathematischen Inhalte interessiert. Dieses Interesse muss sich nicht auf die gesamte Mathematik beziehen, und natürlich sind auch einmal »Durststrecken« erlaubt, in denen sich das Studium etwas zäher anfühlt. Wenn die Motivation »für die Mathematik« aber grundsätzlich vorhanden ist, dann ist das Mathematikstudium eine wunderbare Gelegenheit, gleichzeitig diesem Interesse nachzugehen und sich im Vorübergehen in Hinsicht auf die genannten Punkte weiterzuentwickeln.
2.2.3 Bemerkungen zum Lehramtsstudium.
Die Vorlesungen Lineare Algebra 1 und 2 sind auch Bestandteil des Lehramtsstudienganges Gymnasium/Gesamtschule/Berufskolleg. Ich möchte einige Bemerkungen dazu machen, warum ich das für sinnvoll halte. Natürlich ist der Vorlesungsstoff überwiegend nicht Unterrichtsstoff. Und auch wenn Sie mit Sicherheit vom fachmathematischen Anteil des Studium für die Tätigkeit an der Schule profitieren, will ich nicht verheimlichen, dass es eines nicht geringen Aufwands bedarf, wenn Sie aus dem Vorlesungsstoff das maximal Mögliche für den Schulunterricht herausholen wollen. Warum sollten Sie trotzdem die regulären Anfängervorlesungen des Bachelor-Studiengangs Mathematik besuchen?
Am wichtigsten aus meiner Sicht: Es ist für eine Mathematiklehrer∗in essenziell, präzise formulieren zu können (und das ihren Schüler∗innen mitzugeben); und entscheiden zu können, ob eine mathematische Aussage wahr oder falsch ist, und das begründen zu können.
Das lernt man in der Schule oft nicht ausreichend. Um hier eine hinreichend hohe Sicherheit zu erreichen, muss man diese Fertigkeiten trainieren. Und dann bietet es sich ja an, dieses Training anhand des grundlegenden Stoffs der Mathematik durchzuführen, wie er in den Vorlesungen Lineare Algebra und Analysis behandelt wird.
Bedenken Sie, dass es ein großer Luxus des Faches Mathematik ist, dass man sich sicher sein kann, dass alles, was man erklärt, auch richtig ist, und man das auch überprüfen kann.
Lineare Algebra ist Schulstoff (natürlich nicht alles, was in der Vorlesung vorkommt; aber es ist wichtig, dass die Lehrer∗in einen Überblick und einen deutlichen Wissensvorsprung vor den Schüler∗innen hat.)
Eine der Aufgaben der gymnasialen Oberstufe ist die Vorbereitung auf ein mögliches Studium und eine Mathematiklehrer∗in sollte vermitteln können, wie Mathematik an der Universität betrieben wird.
Es ist nun so, dass der Stoff in der Vorlesung nicht mundgerecht für den Unterricht aufbereitet wird – nicht einmal näherungsweise: Teilweise ist eine erhebliche »Übersetzungsarbeit« zu leisten. Das kann nicht innerhalb dieser Vorlesung geschehen. Schon alleine aus Zeitgründen, aber auch, weil das besser jemand macht, der mehr Kontakt zur Lehrerausbildung hat als eine Professor∗in in der Fachmathematik. Es gibt fachdidaktische Veranstaltungen in Ihrem Studium, die sich dem widmen und Materialien, die Sie dabei unterstützen können.
Übrigens ist diese Diskrepanz ein klassisches Thema, siehe die Bücher Elementarmathematik vom höheren Standpunkt von Felix Klein (erste Auflage um 1908), die historisch und mathematisch interessant sind, die man mit insgesamt über 850 Seiten allerdings nicht mal eben an einem Nachmittag durchliest.
Weitere Quellen:
B. Schwarz, P. Herrmann, Bezüge zwischen Schulmathematik und Linearer Algebra in der hochschulischen Ausbildung angehender Mathematiklehrkräfte – Ergebnisse einer Dokumentenanalyse, Mathematische Semesterberichte 62 (2015), 195–217.
B. Schwarz, P. Herrmann, G. Kaiser, B. Richter, J. Struckmeier, Lineare Algebra in der Lehramtsausbildung – Wenig Bezug zum Mathematikunterricht?
2.2.4 Anwendungen der Linearen Algebra
Eine etwas andere als die oben genannte ist die Frage »Wozu braucht man das/kann man das gebrauchen?«. Mit Antworten darauf könnte man speziell in Bezug auf die Lineare Algebra ganze Bücher füllen, und diese Anwendungen können natürlich auch in Ihre persönliche Antwort auf die Frage einfließen, warum Sie lineare Algebra lernen möchten.
Wichtige Gründe, warum die Lineare Algebra an so vielen Stellen nützlich ist, sind, dass man lineare Gleichungssysteme einerseits theoretisch viel besser versteht als Systeme von allgemeineren Gleichungen, und sie andererseits tatsächlich lösen kann, selbst wenn sie einigermaßen groß sind, anders als viele andere Arten/Systeme von Gleichungen (irgendwo gibt es natürlich auch hierbei Grenzen). Außerdem kommen lineare Strukturen praktisch »überall« vor, zumindest näherungsweise.
Ein gutes Beispiel ist die Analysis. Es ist die grundlegende Strategie der Differentialrechnung, zu einer (differenzierbaren) Funktion die bestmögliche Annäherung durch eine lineare Funktion zu suchen. Die Steigung dieser Geraden ist die Ableitung an der betrachteten Stelle. Während die Theorie der linearen Funktionen \(\mathbb R \to \mathbb R\), also von den reellen Zahlen in sich, so einfach ist, dass man alles Benötigte ad hoc bereitstellen kann, ist es in höheren Dimensionen sinnvoll, diesen Teil der Theorie auf eine systematische Grundlage zu stellen. In der Analysis 2 und Analysis 3 werden die Begriffe des Vektorraums (Definition 6.1) und der linearen Abbildung (Definition 7.1) ein wichtiges Hilfsmittel sein.
Ähnlich ist es in Numerik, Optimierung, Wahrscheinlichkeitstheorie, … In fast allen Bereichen der Mathematik wird Lineare Algebra benutzt. Die Begriffe des Vektorraums und der Gruppe (Definition 8.1, sozusagen die mathematische Art und Weise, über Symmetrie zu sprechen, vergleiche Abschnitt 8.1.6) spielen praktisch überall in der Mathematik eine Rolle. Besonders natürlich in den fortgeschrittenen Vorlesungen der Algebra-Schiene: Algebra, Kommutative Algebra, Algebraische Geometrie, Algebraische Zahlentheorie. Da diese sequentiell aufeinander aufbauen, ist es aber – im Vergleich etwa zur Graphentheorie (siehe Kapitel 13), die nicht viele Vorkenntnisse benötigt – schwieriger, das an dieser Stelle zu illustrieren – Sie müssen sich also noch etwas gedulden, um die Lineare Algebra dort im Einsatz zu sehen.