11.6 Volumina und die Determinante
11.6.1 Das Volumen von Teilmengen von \(\mathbb R^n\)
Es entspricht zwar der Anschauung, dass man Teilmengen von \(\mathbb R^2\) einen Flächeninhalt in \(\mathbb R_{\ge 0}\cup \{ \infty \} \), also eine nicht-negative Zahl oder »unendlich«, zuordnen kann. Allgemeiner würden wir gerne jeder Teilmenge von \(\mathbb R^n\) ein Volumen zuordnen. Dies ist aber nicht in vernünftiger Weise möglich! Siehe unten für eine genauere Aussage (und Literaturverweise). Für den Moment halten wir fest, dass wir nicht jeder Teilmenge von \(\mathbb R^n\) ein Volumen zuordnen werden, sondern nur »geeigneten« Teilmengen, darunter alle solche, über die wir in der Praxis sprechen möchten.
Wir beginnen damit, einige offensichtliche Anforderungen zu formulieren. Wir fixieren \(n\in \mathbb N_{{\gt}0}\) und bezeichnen mit \(P(\mathbb R^n)\) die Potenzmenge von \(\mathbb R^n\), also die Menge aller Teilmengen von \(\mathbb R^n\). Wir suchen dann nach einer Teilmenge \(\mathscr M_n \subseteq P(\mathbb R^n)\) (die aus allen Teilmengen von \(\mathbb R^n\) besteht, denen wir überhaupt ein Volumen zuordnen werden) und einer Volumenfunktion (oder einem Maß)
Der Wert \(\mu _n(X)\) für eine Teilmenge \(X\subseteq \mathbb R^n\), die in \(\mathscr M_n\) liegt, ist also entweder eine nicht-negative reelle Zahl, oder unendlich (\(\infty \)). Beispielsweise sollte sicherlich \(\mu _n(\emptyset )=0\) und \(\mu _n(\mathbb R^n)=\infty \) gelten.
Etwas systematischer wollen wir jedenfalls die folgenden Eigenschaften verlangen:
Normierung. Es gilt \([0,1]^n\in \mathscr M_n\) und \(\mu _n([0,1]^n) = 1\).
Translationsinvarianz. Für \(X\in \mathscr M_n\) und \(v\in \mathbb R^n\) gilt \(v+X\in \mathscr M_n\) und \(\mu _n(v+X)=\mu _n(X)\).
Additivität für endliche disjunkte Vereinigungen. Sind \(X, Y\in \mathscr M\), und ist \(X\cap Y=\emptyset \), so gilt
Hier ist \([0,1] = \{ x\in \mathbb R;\ 0\le x\le 1\} \) das abgeschlossene Intervall mit den Endpunkten \(0\), \(1\). Die Teilmenge \([0,1]^n\subseteq \mathbb R^n\) nennt man den Einheitswürfel. Wir schreiben \(v+X = \{ v+x;\ x\in X\} \), mit anderen Worten: \(v+X = t_v(X)\) ist das Bild von \(X\) unter der Translation \(t_v\colon x\mapsto v+x\). Ist in der dritten Bedingung eines (oder beide) der Volumen \(\mu _n(X)\), \(\mu _n(Y)\) gleich \(\infty \), so soll auch die Summe den Wert \(\infty \) haben.
Es gibt für \(n\ge 3\) keine Funktion \(\mu _n\colon P(\mathbb R^n)\to \mathbb R_{\ge 0}\cup \{ \infty \} \) mit den obigen drei Eigenschaften. Das hat Hausdorff 1914 bewiesen. Banach zeigte 1923, dass es für \(n=1\) und \(n=2\) zwar Abbildungen \(\mu _1\colon \mathbb R\to \mathbb R_{\ge 0}\cup \{ \infty \} \), \(\mu _2\colon \mathbb R^2\to \mathbb R_{\ge 0}\cup \{ \infty \} \) mit diesen Eigenschaften gibt, dass diese aber nicht eindeutig bestimmt sind. Siehe [ El ] I.1.
Die Bemerkung zeigt, dass wir nur für eine geeignete Teilmenge \(\mathscr M_n\subset P(\mathbb R^n)\) eine Volumenfunktion \(\mu _n\) werden definieren können. Bevor wir darüber sprechen, welchen Teilmengen wir ein Volumen zuordnen können, ziehen wir einige Folgerungen aus den oben geforderten Eigenschaften.
Sei \(\mathscr M_n\subset P(\mathbb R^n)\) und \(\mu _n\colon \mathscr M_n\to \mathbb R_{\ge 0}\cup \{ \infty \} \) eine Funktion, die die oben aufgeführten Eigenschaften (Normierung, Translationsinvarianz, Additivität für endliche disjunkte Vereinigungen) hat. Dann gilt
(Monotonie) Sind \(X, Y\in \mathscr M\), und ist \(X\subseteq Y\), so gilt \(\mu _n(X)\le \mu _n(Y)\).
(Volumen von Quadern) Für \(a_i, b_i\in \mathbb R\), \(a_i\le b_i\), \(i=1, \dots , n\), gilt \([a_1, b_1] \times \cdots \times [a_n, b_n]\in \mathscr M_n\) und
\[ \mu _n([a_1, b_1] \times \cdots \times [a_n, b_n]) = \prod _{i=1}^n (b_i-a_i) \]
In (1) setzen wir \(a\le \infty \) für alle \(a\in \mathbb R_{\ge 0}\).
Wir schreiben hier wie üblich \([a,b] = \{ x\in \mathbb R;\ a\le x\le b\} \) für das abgeschlossene Intervall mit den Endpunkten \(a\le b\), \(a,b\in \mathbb R\). Das Produkt, das wir hier betrachten, ist also ein »\(n\)-dimensionaler Quader«.
Teil (1) folgt, indem wir \(Y\) als die disjunkte Vereinigung \(Y\cup (X\setminus Y)\) schreiben, weil \(\mu _n(X\setminus Y)\ge 0\) ist. Für Teil (2) bemerken wir zunächst, dass es für das Volumen eines Quaders keinen Unterschied macht, ob wir abgeschlossene oder (halb-)offene Intervalle betrachten, denn wir können beliebig viele Mengen der Form \(\{ a\} \times [a_2, b_2] \times \cdots \times [a_n, b_n]\) in \([a_1, b_1] \times \cdots \times [a_n, b_n]\) unterbringen. Das ist wegen der Monotonie nur möglich, wenn \(\mu _n(\{ a\} \times [a_2, b_2] \times \cdots \times [a_n, b_n])=0\) gilt.
Durch Zusammensetzen von Translaten \(x + [0,1)^n\) des halboffenen Einheitswürfels, verschoben um einen Vektor \(x\) mit Koordinaten in \(\mathbb Z\), kann man alle Quader, die als Produkte von halboffenen Intervallen mit ganzzahligen Koordinaten gebildet werden, erhalten, und sieht, dass diese das im Lemma gegebene Maß haben. Andersherum kann man Translate von Quadern, die Produkte von Intervallen mit rationaler Länge sind, zusammensetzen zu einem Quader mit ganzzahligen Seitenlängen. Damit erhält man des Ergebnis unter der Voraussetzung, dass \(b_i-a_i\in \mathbb Q\) für alle \(i\). Den allgemeinen Fall erhält man dann schließlich, indem man ausnutzt, dass sich reelle Zahlen beliebig genau durch rationale Zahlen annähern lassen, und wieder die Monotonie verwendet.
An dieser Stelle können Sie zu Abschnitt 11.6.4 springen, wenn Sie bereit sind zu glauben, dass \(\mu _n\colon \mathscr M_n\to \mathbb R_{\ge 0}\cup \{ \infty \} \) existiert mit einer Menge \(\mathscr M_n\) von Teilmengen von \(\mathbb R^n\), die alle Teilmengen enthält, die »uns interessieren«, und dass für diese Teilmengen der Wert \(\mu _n\) eindeutig durch die obigen Eigenschaften bestimmt ist.
Etwas mehr Details zu zwei möglichen Ansätzen geben wir in den folgenden beiden Abschnitten:
Für Jordan-messbare Teilmengen \(X\) von \(\mathbb R^n\) ist der Wert \(\mu _n\) schon durch die obigen Eigenschaften eindeutig bestimmt, und man kann auf der Teilmenge \(\mathscr M_n^J\subset P(\mathbb R^n)\) aller Jordan-messbaren Mengen die Funktion \(\mu _n\colon \mathscr M_n^J\to \mathbb R_{\ge 0}\cup \{ \infty \} \) relativ leicht definieren und ihre Eigenschaften beweisen. Der Nachteil dieser Definition ist, dass viele Mengen, über die man »in der Praxis« (Analysis, Wahrscheinlichkeitstheorie, …) sprechen möchte, nicht Jordan-messbar sind, siehe Bemerkung 11.61. Für unsere Zwecke reicht diese Menge von »messbaren Mengen« aber aus.
Wegen der genannten Nachteile der Jordan-Messbarkeit ist der weitaus häufiger genutzte Ansatz die Definition von messbaren Mengen, die auf Lebesgue (und Borel) zurückgeht. Siehe Abschnitt 11.6.3.
11.6.2 Jordan-messbare Mengen
Wir wollen nun schrittweise eine Zahl \(\mu _n(M)\) für viele Teilmengen von \(\mathbb R^n\) definieren. Wir beginnen mit dem Produkt von \(n\) Intervallen; diesen Fall hatten wir schon in Lemma 11.54 betrachtet.
Ein Quader (in \(\mathbb R^n\)) ist ein Produkt von \(n\) Intervallen mit Endpunkten \(a_i \le b_i\), \(i=1, \dots , n\), zum Beispiel
\[ [a_1, b_1] \times \cdots \times [a_n, b_n], \]aber wir lassen alternativ auch offene und halboffene Intervalle zu.
Das Volumen (oder: Maß) eines Quaders wie in (1) ist definiert als
\[ \mu _n([a_1, b_1] \times \cdots \times [a_n, b_n]) = \prod _{i=1}^n (b_n-a_n). \](Dieselbe Definition verwenden wir, wenn der Quader mit offenen/halboffenen Intervallen gebildet wurde.)
Statt von Quadern spricht man präziser auch von \(n\)-dimensionalen Quadern oder manchmal auch von Hyperquadern oder Hyperrechtecken. Als nächsten Schritt betrachten wir Vereinigungen von Quadern.
Eine elementare Teilmenge von \(\mathbb R^n\) ist eine Teilmenge, die sich als endliche Vereinigung von Quadern schreiben lässt.
Es ist dann nicht schwer zu beweisen, dass man auch jeder elementaren Teilmenge in sinnvoller Weise ein Volumen zuordnen kann.
Jede elementare Teilmenge \(M\subset \mathbb R^n\) lässt sich als disjunkte Vereinigung \(Q_1 \sqcup \cdots \sqcup Q_r\) von Quadern \(Q_i\) schreiben, und die Zahl \(\mu _n(M):= \sum _{i=1}^r \mu _n(Q_i)\) ist unabhängig von der Wahl dieser Zerlegung. Wir nennen \(\mu _n(M)\) das Volumen oder das Maß von \(M\).
Man kann das auf verschiedene Weisen beweisen. Für einen geschickten Beweis siehe [ Ta ] , Lemma 1.1.2.
Nur elementare Mengen zu betrachten, reicht uns noch nicht aus. Wir dehnen die Theorie weiter aus, indem wir Teilmengen von \(\mathbb R^n\) hinzufügen, die sich »mit demselben Ergebnis von innen und von außen durch elementare Teilmengen approximieren lassen«. Die Theorie des Jordan-Maßes ist nicht gut geeignet, um Mengen mit »unendlicher Ausdehnung« zu betrachten, wir beschränken uns daher auf beschränkte Mengen im Sinne der folgenden Definition.
Eine Teilmenge \(X\subseteq \mathbb R^n\) heißt beschränkt, wenn \(N\ge 0\) existiert mit \(X \subseteq \{ x\in \mathbb R^n;\ \lVert x\rVert \le N\} \), oder äquivalent: wenn es einen Quader in \(\mathbb R^n\) gibt, in dem \(X\) enthalten ist.
Sei \(X\subseteq \mathbb R^n\) eine beschränkte Teilmenge.
Das innere Jordan-Maß \(\mu _{n, \ast }(X)\) von \(X\) ist definiert als
\[ \mu _{n,\ast }(X) = \sup _{E \subseteq X} \mu _n(E), \]wobei das Supremum über alle elementaren Teilmengen \(E\subset \mathbb R^n\) gebildet wird, die in \(X\) enthalten sind.
Das äußere Jordan-Maß \(\mu _{n}^\ast (X)\) von \(X\) ist definiert als
\[ \mu _{n}^\ast (X) = \inf _{X \subseteq E} \mu _n(E), \]wobei das Infimum über alle elementaren Teilmengen \(E\subset \mathbb R^n\) gebildet wird, die \(X\) enthalten.
Die Teilmenge \(X\) heißt Jordan-messbar, wenn \(\mu _{n,\ast }(X) = \mu _n^\ast (X)\) gilt. In diesem Fall nennen wir \(\mu _n(X) := \mu _{n,\ast }(X) = \mu _n^\ast (X)\) das (Jordan-)Maß oder (Jordan-)Volumen von \(X\).
Jede elementare Teilmenge \(E\) ist Jordan-messbar, und ihr Jordan-Maß im Sinne der obigen Definition stimmt mit der vorherigen Definition von \(\mu _n(E)\) überein. Für die leere Menge verstehen wir die Definition so, dass das Supremum über die leere Indexmenge gleich \(0\) ist, so dass \(\emptyset \) messbar mit Maß \(\mu _n(\emptyset ) = 0\) ist.
Man könnte für unbeschränkte Mengen \(X\) als Jordan-Maß \(\infty \) festsetzen, aber das ist nicht befriedigend, weil auch unbeschränkten Mengen unter Umständen ein endliches Maß zugeordnet werden sollte, ähnlich wie es konvergente uneigentliche Integrale gibt.
Für die Experten die Bemerkung dass das, was wir hier (und man üblicherweise) als Jordan-Maß bezeichnen, kein »Maß« (sondern nur ein »Inhalt«) im Sinne der Maßtheorie ist.
Wir fassen einige wichtige Eigenschaften des so definierten Begriffs zusammen; darunter sind insbesondere die Eigenschaften, mit denen wir in Abschnitt 11.6.1 die Diskussion begonnen hatten.
Das Jordan-Maß ist eine Abbildung \(\mu _n\) von der Menge \(\mathscr M_n^J\) aller Jordan-messbaren Teilmengen nach \(\mathbb R_{\ge 0}\) mit den folgenden Eigenschaften.
(Normierung) Der Einheitsquader \([0,1]^n\) ist Jordan-messbar und hat Maß \(1\). Die leere Menge ist Jordan-messbar und hat Maß \(0\).
(Translationsinvarianz) Ist \(X\) Jordan-messbar und \(v\in \mathbb R^n\), dann ist \(v+X := \{ v+x;\ x\in X\} \) Jordan-messbar und \(\mu _n(v+X)=\mu _n(X)\).
Sind \(X\) und \(Y\) Jordan-messbar, so auch \(X\cap Y\), \(X\cup Y\) und \(X\setminus Y\).
(Endliche Vereinigungen) Sind \(X, Y\subseteq \mathbb R^n\) Jordan-messbare Teilmengen, so sind \(X\cup Y\) und \(X\cap Y\) messbar und es gilt
\[ \mu _n(X\cup Y) = \mu _n(X) + \mu _n(Y) - \mu _n(X\cap Y). \](Monotonie) Sind \(X, Y\subseteq \mathbb R^n\) messbar, und ist \(X\subseteq Y\), so gilt \(\mu _n(X)\le \mu _n(Y)\).
Jede beschränkte konvexe Teilmenge von \(\mathbb R^n\) ist Jordan-messbar.
Wir geben nur einige skizzenhafte Hinweise. Teile (1), (2) und (5) ergeben sich leicht aus der Definition.
zu (3). Das kann man daraus folgern, dass für elementare Teilmengen \(X,Y\subseteq \mathbb R^n\) auch die Mengen \(X\cup Y\), \(X\cap Y\) und \(X\setminus Y\) elementare Teilmengen sind.
zu (4). Wir zerlegen \(X\cup Y\) als die disjunkte Vereinigung \((X\setminus Y) \sqcup (Y\setminus X)\sqcup (X\cap Y)\). Das reduziert die Aufgabe darauf, die Aussage für disjunkte Vereinigungen zu zeigen, und das ist nicht schwierig.
zu (6). Eine Teilmenge \(X\subseteq \mathbb R^n\) heißt konvex, wenn für alle \(x, x^\prime \in X\) auch die gesamte Strecke zwischen \(x\) und \(x^\prime \), also alle Punkte der Form \(ax + (1-a)x^\prime \) für \(a\in [0,1]\), in \(X\) liegen. Diese Eigenschaft des Jordan-Maßes ist nicht so leicht zu zeigen. Siehe [ El ] II.7.4.
Es ist leicht, Teilmengen von \(\mathbb R^n\) anzugeben, die nicht Jordan-messbar sind, zum Beispiel \([0,1]^n \cap \mathbb Q^n\) und \([0,1]^n\setminus \mathbb Q^n\) für \(n\ge 1\). Für die Belange der Vorlesung Lineare Algebra kommen wir aber mit den Jordan-messbaren Teilmengen aus. Es sei aber bemerkt, dass selbst kompakte Teilmengen von \(\mathbb R\) nicht notwendig Jordan-messbar sind; ebenso gibt es beschränkte offene Teilmengen, die nicht Jordan-messbar sind. Die folgende Bemerkung enthält einen Verweis auf ein konkretes Beispiel.
Die sogenannten fetten Cantor-Mengen sind kompakte Teilmengen von \([0,1]\), die kein Intervall \([a,b]\) enthalten, deren Abschluss aber das gesamte Einheitsintervall \([0,1]\) ist. Sie haben folglich inneres Jordan-Maß \(0\) und äußeres Jordan-Maß \(1\) und sind damit ein Beispiel für nicht-Jordan-messbare kompakte Teilmengen von \(\mathbb R\). Das Komplement \([0,1]\setminus C\) einer solchen Teilmenge \(C\subset [0,1]\) ist ein Beispiel für eine beschränkte offene Teilmenge von \(\mathbb R\), die nicht Jordan-messbar ist.
Die Definition des Riemann-Integrals (oder präziser: des Darboux-Integrals) mit Ober- und Untersumme passt gut zum Begriff der Jordan-Messbarkeit, und man kann zeigen:
Seien \(a \le b\) reelle Zahlen und \(f\colon [a,b]\to \mathbb R\) eine Abbildung. Dann sind äquivalent:
Die Funktion \(f\) ist auf dem Intervall \([a,b]\) Riemann-integrierbar.
Die Mengen \(E_+ := \{ (x,y);\ x\in [a,b],\ 0\le y\le f(x)\} \) und \(E_- := \{ (x,y);\ x\in [a,b],\ 0\ge y\ge f(x)\} \) sind Jordan-messbar.
In diesem Fall gilt
Siehe [ Ta ] 1.1.
11.6.3 Lebesgue-messbare Mengen
Wir wollen den Begriff das Lebesgue-Maßes und der Lebesgue-messbaren Teilmenge hier nicht definieren, sondern nur darauf hinweisen, dass man eine Theorie entwickeln kann, so dass für die Menge \(\mathscr M_n^L\) aller messbaren Teilmengen gilt, dass \(\mathscr M_n^J \subset \mathscr M_n^L \subset P(\mathbb R^n)\) – jede Jordan-messbare Teilmenge ist Lebesgue-messbar, und so dass alle offenen Teilmengen von \(\mathbb R^n\) sowie alle abgeschlossenen Teilmengen von \(\mathbb R^n\) Lebesgue-messbar sind. Außerdem sind endliche Durchschnitte und abzählbare Vereinigungen von Lebesgue-messbaren Teilmengen wieder Lebesgue-messbar. Vereinigungen mit abzählbar unendlicher Indexmenge in die Theorie miteinzubeziehen, ist ein wichtiger Baustein der »Maßtheorie«.
Das Lebesgue-Maß \(\mu _n^L\) ist dann eine Abbildung
die jeder Lebesgue-messbaren Teilmenge als Maß eine nicht-negative Zahl in \(\mathbb R\) oder das Maß \(\infty \) – »unendlich« – zuordnet. Mengen mit Maß unendlich können in dieser Theorie in natürlicher Weise berücksichtigt werden. Für Jordan-messbare Teilmengen stimmen das Jordan-Maß und das Lebesgue-Maß überein.
Es gibt »viel mehr« Lebesgue-messbare Mengen als Jordan-messbare Mengen, und das Lebesgue-Maß ist ausreichend für (fast) alle mathematischen Zwecke, aber die Theorie ist dementsprechend komplizierter »aufzusetzen«.
Eindeutigkeit (erst) dann, wenn man Additivität für abzählbare disjunkte Vereinigungen verlangt, also für disjunkte Vereinigungen mit abzählbarer Indexmenge (Abschnitt 3.15).
Mit dem Begriff des Lebesgue-Maßes lässt sich auch der Integralbegriff verallgemeinern. Das »Lebesgue-Integrals« liefert für Riemann-integrierbare Funktionen dasselbe Ergebnis, wie das »gewöhnliche« Integral aus der Analysis 1, es gibt aber Funktionen, die Lebesgue-integrierbar, jedoch nicht Riemann-integrierbar sind. Ein Beispiel ist die Funktion \([0, 1]\to \mathbb R\), die rationale Zahlen auf \(1\) und irrationale Zahlen auf \(0\) abbildet. (Ihr Lebesgue-Integral über das Intervall \([0,1]\) ist gleich \(0\).)
Die Theorie des Lebesgue-Maßes und -Integrals werden in den bereits genannten Büchern [ Ta ] von Tao (insbesondere Kapitel 1.2), und [ El ] von Elstrodt (Kapitel I, II) entwickelt. Eine alternative Quelle ist das Buch von H. Bauer, Maß- und Integrationstheorie, DeGruyter 2002.
Die Maßtheorie ist sowohl in der Analysis, als auch ganz besonders in der Wahrscheinlichkeitstheorie von großer Bedeutung.
11.6.4 Der Flächeninhalt der Einheitskreisscheibe
Wir wollen die Theorie des Jordan-Maßes, die wir entwickelt haben, benutzen, um den Flächeninhalt der Einheitskreisscheibe \(\{ x\in \mathbb R^2;\ \lVert x\rVert \le 1\} \) zu berechnen. Eine Möglichkeit dazu, die schon auf Archimedes und damit mehr als 2000 Jahre zurückgeht und die genau dem Prinzip des Jordan-Maßes entspricht, ist, die Kreisscheibe durch Polygone, genauer durch regelmäßige \(n\)-Ecke zu approximieren.
Dabei verstehen wir unter einem regelmäßigen \(n\)-Eck eine Teilmenge von \(\mathbb R^2\), die aus \(n\) kongruenten gleichseitigen Dreiecken zusammengesetzt ist, deren kleinster Winkel jeweils \(2\pi /n\) ist, und die alle an der Ecke mit diesem kleinsten Winkel zusammentreffen und sich nur mit den Seitenlinien überschneiden. Der Kreis, auf dem alle Eckpunkte der Dreiecke außer des Mittelpunkts des \(n\)-Ecks liegen, heißt der Umkreis des \(n\)-Ecks. Sein Radius ist die Länge der beiden gleichen Seiten der gleichschenkligen Dreiecke, an denen je zwei Dreiecke aneinander angrenzen.
Es ist nicht schwer zu sehen, dass jedes Dreieck Jordan-messbar ist und dass die übliche Formel für den Flächeninhalt gilt: Er berechnet sich als die Hälfte des Produkts der Länge der Grundseite mit der Höhe des Dreiecks. Man kann das leicht auf die Flächeninhalte von Rechtecken zurückführen.
Wir betrachten nun ein regelmäßiges \(n\)-Eck, dessen Umkreis Radius \(r\) hat. Wir können jedes der \(n\) gleichschenkligen Dreiecke in 2 rechtwinklige Dreiecke unterteilen, deren Hypotenuse die Länge \(r\) und deren Katheten die Längen \(r\sin (\pi /n)\) und \(r\cos (\pi /n)\) haben. Vergleiche Satz 11.49.
Der Flächeninhalt jedes dieser \(2n\) rechtwinkligen Dreiecke ist mithin
und für den Flächeninhalt des \(n\)-Ecks erhalten wir das \(2n\)-fache, also
Dieser Ausdruck konvergiert für \(n\to \infty \) wegen \(\sin ^\prime (0) = 1\) und der Stetigkeit von \(\cos \) gegen \(\pi r^2\). Als inneres Jordan-Maß der Kreisscheibe vom Radius \(r\) erhalten wir damit \(\ge \pi r^2\).
Um das äußere Jordan-Maß zu berechnen, betrachten wir ein regelmäßiges \(n\)-Eck, das eine Kreisscheibe vom Radius \(r\) enthält. Ein solches können wir zusammengesetzen aus \(2n\) rechtwinkligen Dreiecken mit einem Winkel \(\pi /n\), der an diesem Winkel anliegenden Kathete von Länge \(r\), folglich Hypotenuse von Länge \(r/\cos (\pi /n)\) und zweiter Kathete der Länge \(r \sin (\pi /n)/\cos (\pi /n)\). Damit erhalten wir für den Flächeninhalt des \(n\)-Ecks
der für \(n\to \infty \) ebenfalls gegen \(\pi r^2\) konvergiert. Damit ist das äußere Jordan-Maß gleich dem inneren Jordan-Maß, die Einheitskreisscheibe also meßbar mit Jordan-Maß \(\pi r^2\).
Alternativ kann man den Zusammenhang zwischen Jordan-Maß und (Riemann-)Integral ausnutzen. Dass der Flächeninhalt der Einheitskreisscheibe gleich \(\pi \) ist, entspricht dem folgenden Ergebnis.
Es gilt
Nach der Substitutionsregel, angewandt auf \(x = \cos (t)\), können wir das Integral umschreiben als
(Die Vorzeichenänderung wegen der Vertauschung der Integrationsgrenzen im zweiten Schritt hebt sich damit auf, dass wir mit \(\sin \) das Negative der Ableitung \(\cos ^\prime \) stehen lassen.)
Um das so erhaltene Integral auszurechnen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wir verwenden die Gleichheit \(\sin (t)^2 = \frac12 (1-\cos (2t))\), die leicht aus dem Additionstheorem für \(\cos (2x) = \cos (x+x)\) folgt. Damit ergibt sich
wobei wir im letzten Schritt noch benutzen, dass \(\sin (0)=\sin (2\pi )=0\).
11.6.5 Volumenänderung unter linearen Abbildungen
Wir können nach all diesen Vorbereitungen nun die lineare Algebra ins Spiel bringen und wollen untersuchen, was wir über das Volumen \(f(M)\) des Bildes einer (messbaren) Menge \(M\) unter einer linearen Abbildung \(f\colon \mathbb R^n\to \mathbb R^n\) sagen können.
Wir beginnen mit linearen Abbildungen von besonders einfacher Form.
Sei \(A=\operatorname{diag}(a_1,\dots , a_n)\in M_n(\mathbb R)\) eine Diagonalmatrix und sei \(f\) die durch \(x\mapsto Ax\) gegebene lineare Abbildung \(\mathbb R^n\to \mathbb R^n\). Ist \(M\subseteq \mathbb R^n\) Jordan-messbar, so gilt dies auch für \(f(M)\), und es gilt \(\mu _n(f(M)) = \lvert a_1\cdots a_n\rvert \, \mu _n(M)\).
Sei \(A=E_{ij}(a)\in M_n(\mathbb R)\) eine Elementarmatrix (\(i\ne j\), \(a\in \mathbb R\)) und sei \(f\) die durch \(x\mapsto Ax\) gegebene lineare Abbildung \(\mathbb R^n\to \mathbb R^n\). Ist \(M\subseteq \mathbb R^n\) Jordan-messbar, so gilt dies auch für \(f(M)\), und es gilt \(\mu _n(f(M)) = \mu _n(M)\).
In beiden Fällen genügt es zu beweisen, dass Quader unter \(f\) auf Jordan-messbare Teilmengen abgebildet werden und dass in diesen Fällen die gegebenen Formeln für das Maß des Bildes unter \(f\) richtig sind. Dann folgt dieselbe Aussage auch zunächst für elementare Teilmengen, indem wir sie als disjunkte Vereinigungen von Quadern schreiben, und sodann für beliebige Jordan-messbare Teilmengen von \(\mathbb R^n\), indem wir sie geeignet durch elementare Teilmengen »approximieren« (und beachten, dass die Änderung des Maßes sich in einem konstanten, d.h. von \(M\) unabhängigen, Faktor widerspiegelt.
Teil (1) ist damit klar, denn \(f\) bildet Quader auf Quader ab, und die Seitenlängen des Bildquaders entstehen aus denen des ursprünglich gegebenen Quaders durch Multiplikation mit den Absolutbeträgen der Diagonaleinträge der Diagonalmatrix \(A\).
Für Teil (2) argumentieren wir wie folgt. Wir betrachten der Einfachheit halber den Fall \(n=2\). Der allgemeine Fall lässt sich darauf zurückführen, weil \(f\) auf dem Unterraum der Dimension \(n-2\), der von den Standardbasisvektoren \(e_k\) mit \(k\ne i,j\) erzeugt wird, als Identität operiert, und nur auf dem Komplement \(\langle e_i, e_j\rangle \) »etwas passiert«. Ferner sei ohne Einschränkung \(i = 1\), \(j=2\).
Das Bild des Rechtecks \([a, b)\times [a^\prime , b^\prime )\) unter \(f\) ist ein Parallelogramm mit derselben Grundseite \([a,b)\) und der Höhe \(b^\prime - a^\prime \). Es ist leicht zu sehen, dass dieses Jordan-messbar ist und Flächeninhalt \((b-a)(b^\prime -a^\prime )\) hat. Entweder, indem man es durch Rechtecke geeignet ausschöpft bzw. überdeckt und so dass innere und äußere Jordan-Maß abschätzt, oder indem man den Zusammenhand zwischen Jordan-Maß und Riemann-Integral ausnutzt.
Eine weitreichende Verallgemeinerung von Teil (2) des Lemmas ist der folgende Satz, dessen Beweis wir aber an dieser Stelle auslassen. (Es handelt sich um einen Spezialfall des Satzes von Fubini für das Riemann-Integral.)
Seien \(X, Y\subseteq \mathbb R^n\) Jordan-messbare Teilmengen. Es sei \(n = r+s\) und für \(a\in \mathbb R^r\) sei
Entsprechend bilden wir \(Y_a\subset \mathbb R^s\) für \(a\in \mathbb R^r\).
Wir setzen voraus, dass alle Teilmengen \(X_a\), \(Y_a\) von \(\mathbb R^s\) Jordan-messbar seien und dass \(\mu _s(X_a) = \mu _s(Y_a)\) für alle \(a\in \mathbb R^r\) gilt. Dann folgt \(\mu _n(X) = \mu _n(Y)\).
Aus Lemma 11.64 erhalten wir nun leicht den folgenden allgemeinen Satz, der noch einmal die Bedeutung der Determinante einer linearen Abbildung unterstreicht und eine geometrische Interpretation dafür liefert.
Sei \(M\subseteq \mathbb R^n\) eine Jordan-messbare Teilmenge und sei \(f\colon \mathbb R^n\to \mathbb R^n\) eine lineare Abbildung. Dann ist auch \(f(M)\) Jordan-messbar und es gilt
Ist die Abbildung \(f\) nicht invertierbar, so ist ihr Bild (und damit auch \(f(M)\)) enthalten in einem echten Untervektorraum von \(\mathbb R^n\), und es folgt \(\mu _n(f(M)) = 0\).
Andernfalls können wir \(f\) schreiben als eine Verkettung einer linearen Abbildung mit Determinante \(1\) und einer linearen Abbildung, die durch eine Diagonalmatrix gegeben ist, also letztlich als Verkettung von Abbildungen der Form, wie sie in Lemma 11.64 betrachtet wurden. Aus dem Lemma folgt dann direkt die Behauptung.
Diese Interpretation der Determinante ist unter anderem wichtig in höherdimensionalen Analysis, zum Beispiel für die Transformationsformel, die höherdimensionale Verallgemeinerung der Substitutionsregel für Integrale.
Als konkrete Anwendung können wir den Flächeninhalt der Ellipse
(für \(a,b\in \mathbb R_{{\gt} 0}\)) berechnen. Denn \(E\) ist das Bild der Einheitskreisscheibe unter der Abbildung \(x\mapsto \operatorname{diag}(a, b)x\) und es folgt \(\mu _2(E) = \pi a b\).