11.3 Weglängen und die trigonometrischen Funktionen
Wir beginnen mit einer heuristischen Diskussion, um den weiteren Fahrplan zu erläutern. Wir möchten einer Drehung der Ebene um den Ursprung einen Winkel \(\alpha \) zuordnen, so dass wir eine Bijektion zwischen der Menge der Winkel und der Menge der Drehungen erhalten. Dabei möchten wir gerne der Drehung \(\rho \) als Winkel die »Länge des Kreisbogens vom Punkt \(e_1\) zum Punkt \(\rho (e_1)\) auf dem Einheitskreis« (gegen den Uhrzeigersinn) zuordnen. Als Einheitskreis bezeichnen wir die Menge \(S^1\) aller Punkte in \(\mathbb R^2\) mit Abstand \(1\) zum Ursprung \((0,0)^t\).
Wenn wir mit \(\pi \) die Hälfte des Umfangs des Einheitskreises bezeichnen, bedeutet das, dass wir zu jeder Zahl im halboffenen Intervall \([0, 2\pi )\) den in \(e_1\) beginnenden Kreisbogen der entsprechenden Länge und den zugehörigen Winkel betrachten können.
Die Verkettung der Drehungen um den Winkel \(\alpha \) und den Winkel \(\beta \) ist dann die Drehung um den Winkel \(\alpha +\beta \) (bzw. um \(\alpha +\beta -2\pi \), falls \(\alpha +\beta \ge 2\pi \) ist). Diese Additivitätseigenschaft ist neben der einfachen Möglichkeit, Winkel zu »messen« und dadurch zu vergleichen, ein wichtiger Grund, den Winkelbegriff einzuführen.
Wir definieren dann die Kosinus- und Sinusfunktion dadurch, dass für \(\alpha \in [0, 2\pi )\) der Punkt \((\cos (\alpha ), \sin (\alpha ))^t\) der eindeutig bestimmte Punkt \(P\) ist, so dass die Länge des Kreisbogens von \(e_1\) bis \(P\) auf dem Einheitskreis gegen den Uhrzeigersinn gleich \(\alpha \) ist. Indem wir die Funktionen durch die Regeln \(\cos (\alpha + 2k\pi ) = \cos (\alpha )\) und \(\sin (\alpha + 2k\pi ) = \sin (\alpha )\) für \(k\in \mathbb Z\) auf ganz \(\mathbb R\) »periodisch« fortsetzen, erhalten wir die üblichen trigonometrischen Funktionen.
Die Drehung \(\rho _\alpha \) um den Winkel \(\alpha \) ist demzufolge durch die Matrix
gegeben, und dass die Verkettung \(\rho _\alpha \circ \rho _\beta \) die Drehung um den Winkel \(\alpha +\beta \) ist, entspricht der Gleichheit
von Matrizen, oder explizit ausgeschrieben den Gleichheiten
die man als die Additionstheoreme für \(\cos \) und \(\sin \) bezeichnet.
Wenn Sie bereit sind zu glauben, dass man jedem Kreisbogen »in vernünftiger Weise« eine Länge zuordnen kann, so dass – mit \(2\pi \) als Umfang des Einheitskreises – jede Länge zwischen \([0, 2\pi )\) als Länge eines eindeutig bestimmten Kreisbogens auftritt, und man auf diese Art und Weise wie oben beschrieben stetige Funktionen \(\cos \) und \(\sin \) erhält, dann können Sie die folgenden Abschnitte, die der formalen Herleitung dieser Tatsachen dienen, erstmal überspringen.
11.3.1 Länge einer Kurve
Wir müssen, um den Begriff des Winkels so definieren zu können, wie wir es vorhaben, nicht nur die Länge einer Strecke, sondern auch die Länge eines »Bogens«, also entlang einer »Kurve«, messen können – zum Beispiel den Umfang des Einheitskreises \(S^1:= \{ x\in \mathbb R^2;\ \lVert x\rVert = 1\} \) oder eines Teils davon.
Wie man die Länge solcher Wege messen könnte, war lange Zeit ein wichtiges ungelöstes mathematisches Problem.
Es würde zu weit führen, die entsprechende Theorie hier vollständig auszuarbeiten, aber wir skizzieren die Kernpunkte. Weitere Details finden Sie in der Literatur, siehe die Hinweise am Ende dieses Abschnitts.
Wie üblich bezeichnen wir für reelle Zahlen \(a {\lt} b\) mit \([a,b] := \{ x\in \mathbb R; a \le x \le b\} \) das abgeschlossene Intervall mit den Endpunkten \(a\) und \(b\), mit \((a,b) := \{ x\in \mathbb R;\ a {\lt} x {\lt} b\} \) das offene Intervall und mit \([a, b)\) bzw. \((a, b]\) die entsprechenden halboffenen Intervalle.
Unser erstes Ziel ist es, einen vernünftigen Begriff für die Länge eines »Weges« in \(\mathbb R^n\) anzugeben. Unter einem Weg verstehen wir dabei Folgendes:
Dass eine Abbildung \(\gamma \colon [a,b]\to \mathbb R^n\) stetig ist, ist damit gleichbedeutend (und Sie können das dementsprechend als Definition nehmen), dass alle Verkettungen \(p_i \circ \gamma \colon [a,b]\to \mathbb R\) stetig sind, wobei \(p_i\colon \mathbb R^n\to \mathbb R\), \((x_1,\dots , x_n)^t\mapsto x_i\), die Projektion auf den \(i\)-ten Eintrag bezeichnet.
Für uns ist nur der Fall, dass \(\gamma \) injektiv ist, von Bedeutung, und es schadet nicht, wenn Sie das von vorneherein annehmen. Formal ist es im Moment aber noch nicht erforderlich.
Wir nennen einen Weg \(\gamma \colon [a,b]\to \mathbb R^n\) rektifizierbar, wenn das Supremum
über alle Zerlegungen \(Z=(a = z_0 {\lt} z_1 {\lt} \cdots {\lt} z_{l_Z} = b)\) von \([a,b]\) in \(\mathbb R\) existiert.
In diesem Fall nennen wir \(L(\gamma )\) die Länge des Weges \(\gamma \) (und schreiben \(L_a^b(\gamma )\), wenn es vorteilhaft ist, den betrachteten Anfangs- und Endpunkt explizit anzugeben).
Wir nennen eine Funktion \(\gamma \colon [a,b]\to \mathbb R^n\) (komponentenweise) stetig differenzierbar auf \([a,b]\), wenn für alle Projektionen \(p_i\) die Verkettung \(\gamma _i:= p_i\circ \gamma \) auf dem \([a,b]\) differenzierbar ist, und die Ableitungsfunktion stetig ist. In den Randpunkten \(a\) und \(b\) betrachten wir dazu die einseitige Ableitung und fordern die einseitige Stetigkeit.
Wir bezeichnen dann mit \(\gamma ^\prime \colon [a,b]\to \mathbb R^n\) die Funktion \(x\mapsto (\gamma _1^\prime (x),\dots , \gamma _n^\prime (x))^t\).
Sei \(\gamma \colon [a,b]\to \mathbb R^n\) (komponentenweise) stetig differenzierbar. Dann ist \(\gamma \) rektifizierbar und für die Länge \(L_a^b(\gamma )\) gilt
Für den Beweis verweisen wir auf die Literatur (konkrete Referenzen befinden sich weiter unten). hier nur ein paar Worte dazu. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung und die Dreiecksungleichung für Integrale liefern für Punkte \(z_{i-1}, z_i\in [a, b]\), \(z_{i-1} {\lt} {\lt}z_i\), dass
wobei wir den Ausdruck \(\int _{z_{i-1}}^{z_i} \gamma ^\prime (t) dt\) als den Vektor \(\left(\int _{z_{i-1}}^{z_i} \gamma _1^\prime (t) dt, \dots , \int _{z_{i-1}}^{z_i} \gamma _n^\prime (t) dt\right)^t\) verstehen. Dementsprechend benötigt man im zweiten Schritt eine »mehrdimensionale« Dreiecksungleichung für das Integral. Dies liefert durch Aufsummieren über \(i\) die Abschätzung \(L_a^b(\gamma ) \le \int _a^b \lVert \gamma ^\prime (x)\rVert dx\).
Für die andere Abschätzung zeigt man, dass für jedes \(\varepsilon {\gt} 0\) eine Zerlegung \(Z =(a = z_0 {\lt} z_1 {\lt} \cdots {\lt} z_{l_Z} = b)\) von \([a,b]\) existiert, so dass \(\int _a^b \lVert \gamma ^\prime (x)\rVert dx \le \sum _{i=1}^{l_Z} d(\gamma (z_i), \gamma (z_{i-1})) + \varepsilon \) gilt. Dazu kann man ausnutzen, dass die stetige Funktion \(\gamma \) auf dem kompakten Intervall sogar gleichmäßig stetig ist und sich daher durch Streckenzüge mit hinreichend vielen Stützpunkten beliebig genau annähern lässt.
Sind \(\gamma _1\colon [a,b]\to \mathbb R^n\) und \(\gamma _2\colon [b, c]\to \mathbb R^n\) rektifizierbare Wege mit \(\gamma _1(b)=\gamma _2(b)\), so ist der Weg \(\gamma \colon [a,c]\to \mathbb R^n\), der durch »Zusammensetzen« der Wege \(\gamma _1\) und \(\gamma _2\) entsteht (d.h. \(\gamma (t) = \gamma _1(t)\) für \(t\in [a,b]\), \(\gamma (t) = \gamma _2(t)\) für \(t\in [b,c]\)) ebenfalls rektifizierbar, und es gilt \(L_a^c(\gamma ) = L_a^b(\gamma _1) + L_b^c(\gamma _2)\). Wenn man das ausnutzt, kann man den vorherigen Satz auch anwenden, um die Länge von Wegen durch Integrale auszudrücken, die durch Zusammensetzen von stetig differenzierbaren Wegen entstehen, die aber an den »Verbindungsstellen« nicht unbedingt stetig differenzierbar sein müssen.
Nun wollen wir von der Weglänge übergehen zur Länge des Bildes \(\operatorname{Im}(\gamma )\) eines Weges \(\gamma \). Es ist klar, dass nur dann vernünftig ein Zusammenhang zur Weglänge hergestellt werden kann, wenn der betrachtete Weg (jedenfalls »im wesentlichen«, siehe unten) eine injektive Abbildung ist (also wenn wir nicht »unterwegs umkehren, ein Stück zurücklaufen, und dann auf demselben Weg weiterlaufen«). Daher definieren wir
Um die Länge eines Jordanbogens \(\Gamma \) definieren zu können, ist entscheidend, dass alle injektiven Wege mit Bild \(\Gamma \) dieselbe Weglänge haben. Das werden wir aus dem folgenden Satz folgern können:
Seien \(\gamma _1\colon [a_1, b_1]\to \mathbb R^n\), \(\gamma _2\colon [a_2, b_2]\to \mathbb R^n\) injektive Wege mit \(\Gamma = \operatorname{Im}(\gamma _1) = \operatorname{Im}(\gamma _2)\). Dann existiert eine stetige und streng monotone Abbildung \(\varphi \colon [a_1, b_1]\to [a_2, b_2]\) mit \(\gamma _1 = \gamma _2\circ \varphi \).
Zum Beweis definiert man \(\varphi (t) = \gamma _2^{-1}(\gamma _1(t))\), was möglich ist, weil \(\gamma _2\) eine Bijektion \([a_2, b_2]\to \Gamma \) ist und daher eine Umkehrfunktion besitzt. Es ist nicht schwer nachzuprüfen, dass \(\varphi \) stetig und streng monoton ist.
Seien \(\gamma _1\colon [a_1, b_1]\to \mathbb R^n\), \(\gamma _2\colon [a_2, b_2]\to \mathbb R^n\) injektive Wege mit \(\Gamma = \operatorname{Im}(\gamma _1) = \operatorname{Im}(\gamma _2)\). Dann gilt: \(\gamma _1\) ist genau dann rektifizierbar, wenn \(\gamma _2\) rektifizierbar ist, und in diesem Fall gilt \(L_{a_1}^{b_1}(\gamma _1) = L_{a_2}^{b_2}(\gamma _2)\).
In diesem Fall nennen wir den Jordanbogen \(\Gamma \) rektifizierbar und definieren seine Länge als die Zahl \(L(\Gamma ) = L_{a_1}^{b_1}(\gamma _1) = L_{a_2}^{b_2}(\gamma _2)\).
Mit etwas zusätzlicher Arbeit kann man dieses Korollar, insbesondere also die Definition der Länge eines Jordanbogens verallgemeinern auf den Fall, dass \(\gamma \) injektiv auf \([a, b)\) ist und dass \(\gamma (a)=\gamma (b)\) gilt. Man spricht dann von einem geschlossenen Jordanbogen.
Ist \(f\) eine Isometrie oder eine Verschiebung, dann ist die Verkettung eines rektifizierbaren Weges mit \(f\) ein rektifizierbarer Weg derselben Länge (denn \(f\) erhält die Länge von Strecken), und daher bildet \(f\) Jordanbögen auf Jordanbögen derselben Länge ab.
Der Begriff des rektifizierbaren Weges und die Bogenlänge werden in vielen Lehrbüchern zur Analysis besprochen, zum Beispiel
O. Deiser, Analysis 2, Kapitel 3.2.
H. Heuser, Lehrbuch der Analysis, Teil 2, Teubner 1993, Abschnitte 177, 178
K. Königsberger, Analysis 1, Springer 1992, Kapitel 13
L. Rogge, Vorlesungsskript Analysis, Kapitel IX.
11.3.2 Der Einheitskreis als Jordanbogen und die Zahl \(\pi \)
Wir können nun zeigen, dass der Einheitskreis ein Jordanbogen ist. Wenn man die trigonometrischen Funktionen \(\sin \) und \(\cos \) schon kennt, und beispielsweise die Zahl \(\pi \) so definiert, dass \(\frac{\pi }{2}\) die kleinste positive Nullstelle der Kosinusfunktion ist, dann kann man den Weg \(\gamma \colon [0, 2\pi ]\to \mathbb R^2\), \(t\mapsto (\cos (t), \sin (t))^t\) benutzen, dessen Bild der Einheitskreis ist und der auf \([0, 2\pi )\) injektiv ist, um dies zu zeigen, und sieht dann auch direkt, dass der Einheitskreis Umfang \(2\pi \) hat.
Wir wollen das aber hier noch nicht benutzen. Wir können dann zwar nicht einen stetig differenzierbaren Weg mit Bild \(S^1\) angeben, aber es genügt ja, den Einheitskreis in einige Stücke zu zerlegen und für die einzelnen Stücke nachzuweisen, dass es sich um Jordanbögen handelt.
Die Funktion \(\gamma \colon [-1,1]\to \mathbb R^2\), \(t\mapsto (t, \sqrt{1-t^2})^t\), hat als Bild die »obere Hälfte« des Einheitskreises, also die Menge \(\{ (x,y)^t\in \mathbb R^2;\ x^2+y^2=1,\ y\ge 0\} \). Mit der Vorschrift \(t\mapsto -\sqrt{1-t^2}\) erhalten wir die untere Hälfte, also die Punkte \((x,y)^t\) des Einheitskreises mit \(y\le 0\).
Allerdings sind diese beiden Wege nur auf \((-1, 1)\), nicht jedoch auch \([-1,1]\) stetig differenzierbar. Wir können aber auch die Wege \(t\mapsto (\sqrt{1-t^2}, t)^t\) und analog \(t\mapsto (-\sqrt{1-t^2}, t)^t\) betrachten, die für \(t\in [-1,1]\) die rechte bzw. linke Hälfte des Einheitskreises (also die Kreisbögen mit \(x\ge 0\), bzw. mit \(x\le 0\)) als Bild haben und auch auf dem offenen Intervall \((-1,1)\) stetig differenzierbar sind. Man kann dann diese Wege geeignet zusammensetzen, beispielsweise indem man jeden von ihnen für ein Viertel des Einheitskreises »benutzt«.
Insgesamt sehen wir
Der Einheitskreis \(S^1 \subset \mathbb R^2\) ist ein geschlossener Jordanbogen.
Als ersten wichtigen Schritt zum Winkelbegriff können wir nun die Zahl \(\pi \) definieren.
Die Zahl \(\pi \in \mathbb R\) ist definiert als die Hälfte der Länge des Jordanbogens \(S^1\).
Anhand unserer Definition ist klar, dass der Umfang eines regelmäßigen \(n\)-Ecks, dessen Eckpunkte alle auf dem Einheitskreis liegen, eine untere Schranke für \(2\pi \) ist. Es ist nicht schwer zu zeigen, dass die Folge dieser Umfänge für \(n\to \infty \) gegen \(2\pi \) konvergiert.