11.5 Der Begriff des Winkels
Wir beginnen damit, den Winkel zwischen zwei Ursprungsgeraden in der Ebene \(\mathbb R^2\) zu definieren. Später definieren wir dann auch den Winkel zwischen Vektoren (oder Geraden) in \(\mathbb R^n\) für beliebiges \(n\).
Der Winkel (oder genauer: das Winkelmaß) soll die Größe des »Sektors« messen, der von zwei Geraden eingeschlossen wird. Man könnte nun der Größe des »Vollwinkels« (gewissermaßen der ganzen Ebene) willkürlich eine Zahl zuweisen (\(360\) »Grad« ist die übliche Wahl) und dann andere Winkel entsprechend ihrer Größe mit Zahlen zwischen \(0\) und \(360\) Grad messen. Dann wäre zum Beispiel ein rechter Winkel, also ein Viertel des Vollwinkels, gerade \(90\) Grad groß.
Die Abbildung
ist ein surjektiver Gruppenhomomorphismus mit Kern \(\{ 2\pi k;\ k\in \mathbb Z\} \).
Die Isometrie \(\rho _\alpha := \mathbf f_{\rho (\alpha )}\) von \(\mathbb R^2\) bezeichnen wir als die Drehung um den Winkel \(\alpha \).
Dass \(\rho \) ein Gruppenhomomorphismus ist, bedeutet \(\rho (\alpha + \beta ) = \rho (\alpha )\rho (\beta )\), oder in Termen von Matrizen ausgeschrieben
Dies entspricht genau den Additionstheoremen.
Die Surjektivität folgt daraus, dass sich jeder Punkt \((a,b)^t\) auf dem Einheitskreis in der Form \((\cos (\alpha ), \sin (\alpha ))^t\) und aus unserer Beschreibung der Drehungen von \(\mathbb R^2\).
Die Aussage über den Kern folgt aus Satz 11.42.
Insbesondere gilt:
Wir erhalten eine Bijektion \([0, 2\pi ) \to SO_2(\mathbb R)\),
für alle \(k\in \mathbb Z\) und alle \(\alpha \in \mathbb R\) gilt \(\rho _{\alpha } = \rho _{\alpha +2k\pi }\) und
für \(\alpha , \beta \in \mathbb R\) gilt
\[ \rho _\alpha \circ \rho _\beta = \rho _{\alpha +\beta }. \]
Das führt uns auf die folgende Definition des Winkels.
Äquivalent können wir die Zahl \(\alpha \) aus der Definition als die Länge des Kreisbogens von \(v\) nach \(w\) (gegen den Uhrzeigersinn) definieren.
Wir erhalten damit für die Sinus- und Kosinusfunktion die »naive« Interpretation als das Verhältnis von Gegenkathete und Hypotenuse bzw. von Ankathete und Hypotenuse im rechtwinkligen Dreieck.
Seien \(0, v, w\in \mathbb R^2\) Eckpunkte eines rechtwinkligen Dreiecks mit dem rechten Winkel an der Ecke \(v\) (d.h. \(-v\cdot (w-v) = 0\)). Sei \(\alpha \) der Winkel zwischen \(v\) und \(w\) bzw. zwischen \(w\) und \(v\) (wir wählen unter diesen beiden den Winkel, der kleiner als der rechte Winkel \(\pi /2\) ist).
Dann gilt
Wenn \(v\) auf der waagerechten Koordinatenachse liegt und \(w\) ein Punkt auf dem Einheitskreis im rechten oberen Quadranten ist, dann gilt nach unsere Definition von \(\cos \) und \(\sin \), dass \(w = (\cos (\alpha ), \sin (\alpha ))^t\) und aus \(v\cdot (w-v)=0\) folgt \(v = (\cos (\alpha ), 0)^t\). Es ist dann \(\lVert w \rVert = 1\), \(\rVert v\lVert = \cos (\alpha )\) und \(\rVert w-v\rVert = \sin (\alpha )\), wie gewünscht.
Den allgemeinen Fall führen wir durch eine geeignete Verschiebung, eine Drehung und eine Skalierung auf diese Situation zurück.
Für Vektoren \(v, w\in \mathbb R^2\) könnten wir den Winkel \(\angle (v,w)\) als den Winkel zwischen den Halbgeraden \(\mathbb R_{\ge 0} v\) und \(\mathbb R_{\ge 0} w\) definieren. Wir wollen aber eine Definition geben, die dann auch für höher-dimensionale Räume \(\mathbb R^n\) vernünftig ist. Dort ist es dann wieder nicht möglich, der Richtung »entgegen des Uhrzeigersinns« eine Bedeutung zu geben. Wir werden daher von vorneherein das Ziel verfolgen, »den kleineren« der beiden Winkel zwischen \(v\) und \(w\) zu definieren.
Die Interpretation von \(\cos \) und \(\sin \) aus Satz 11.49 erlaubt es uns, den Winkel zwischen Vektoren auf den Abstandsbegriff (der uns schon in allen \(\mathbb R^n\) zur Verfügung steht) zurückzuführen. Mit der Beschreibung des Skalarprodukts aus Lemma 11.17 kommen wir auf die folgende Definition.
Seien \(v,w\in \mathbb R^n\setminus \{ 0\} \). Der Innenwinkel \(\angle (v,w)\) zwischen \(v\) und \(w\) (oft spricht man auch einfach vom Winkel zwischen diesen Vektoren) ist die eindeutig bestimmte Zahl \(\alpha \in [0, \pi )\), so dass
Man beachte, dass – wie schon gesagt – der Winkel zwischen zwei Vektoren im Sinne dieser Definition immer zwischen \(0\) und dem gestreckten Winkel \(\pi \) liegt – um das zu betonen, spricht man vom Innenwinkel. Werte zwischen \(\pi \) und \(2\pi \) (oder negative Werte für den Winkel) treten in der obigen Definition nicht auf. Mit anderen Worten: Der Innenwinkel ist der kleinere der beiden Winkel, die man erhält, wenn man einerseits von \(v\) nach \(w\) »geht« oder andererseits von \(w\) nach \(v\) »geht«. Es gilt \(\angle (v,w) = \angle (w,v)\).
Diese Definition des Winkels hat die erwarteten Eigenschaften, beispielsweise sind die gegenüberliegenden Winkel, die durch zwei sich schneidende Geraden gebildet werden, gleich groß, und zwei nebeneinander liegende addieren sich zu \(\pi \), dem halben Vollwinkel. Der Winkelbegriff ist invariant unter Translationen. Die Innenwinkelsumme im Dreieck ist \(\pi \).
11.5.1 Der Kosinussatz
Als eine kleine »Anwendung« zeigen wir, dass der Kosinussatz sich aus unseren Definitionen nun leicht ergibt.
Wir wählen Punkte \(v,w\in \mathbb R^2\), so dass das Dreieck mit den Eckpunkten \(0, v, w\) die vorgegebenen Seitenlängen hat, so dass \(a = \lVert v\rVert \), \(b=\lVert w\rVert \), \(c = d(v, w) = \lvert w-v\rVert \). Dann ist \(\gamma \) der Winkel zwischen den Vektoren \(v\) und \(w\).
Es folgt
Andererseits haben wir
Setzen wir hier den obigen Ausdruck für \(2(v,w)\) ein, so erhalten wir die Behauptung des Satzes.
In Frankreich wird der Kosinussatz als Théorème d’Al-Kashi bezeichnet, das bezieht sich auf den persischen Mathematiker (und Arzt) Dschamschid Masʿud al-Kaschi (ca. 1380 – 1429), der den Kosinussatz in einem seiner Bücher angegeben hat. Er führte auch weitere trigonometrische Berechnungen durch und berechnete die Zahl \(2\pi \) auf 16 Dezimalstellen genau.