6.3 Lineare Unabhängigkeit
Gegeben eine Familie \((v_i)_{i\in I}\) von Vektoren in einem Vektorraum \(V\), dann bezeichnen wir \(\sum _{i\in I} 0 v_i\) (also die Linearkombination, in der alle Koeffizienten gleich Null sind) als die triviale Linearkombination der gegebenen Familie von Vektoren. Ihr Wert ist der Nullvektor. Diese Linearkombination ist natürlich völlig uninteressant, und sie hat nur deshalb einen eigenen Namen, damit man sie – zum Beispiel in der folgenden Definition – von der Betrachtung ausschließen kann.
\(V\) ein \(K\)-Vektorraum. Eine Familie \((v_i)_{i\in I}\) von Vektoren \(v_i\in V\) heißt linear unabhängig (l.u.), falls für jede endliche Teilmenge \(J\subseteq I\) gilt: Sind \(a_i\in K\), \(i\in J\) mit
so gilt für alle \(i\in J\): \(a_i=0\).
Eine Familie von Vektoren aus \(V\), die nicht linear unabhängig ist, heißt linear abhängig (l.a.).
In ähnlicher Weise definiert man die Begriffe linear unabhängig und linear abhängig für Teilmengen eines Vektorraums. Man beachte, dass in einer Familie von Vektoren derselbe Vektor mehrfach auftreten kann, jedoch nicht in einer Menge. Ist etwa \(v\in V\), \(v\ne 0\), so ist die Menge \(\{ v, v, \dots , v \} \) linear unabhängig, weil sie gleich der Menge \(\{ v\} \) ist. Die Familie \((v_i)_{i=1,\dots , n}\) mit \(v_i := v\) ist jedoch für \(n{\gt}1\) linear abhängig.
Elemente \(v_1, \dots , v_n\in K^m\) sind genau dann linear unabhängig, wenn das homogene lineare Gleichungssystem \(Ax=0\), in dem \(A\) die Matrix mit den Spalten \(v_1\), …, \(v_n\) ist, nur die triviale Lösung besitzt, oder anders ausgedrückt: eindeutig lösbar ist.
Ist \(V\) ein Vektorraum, so ist jede Basis von \(V\) linear unabhängig, denn dann lässt sich jedes Element in eindeutiger Weise als Linearkombination schreiben, insbesondere der Nullvektor.
Zum Beispiel ist die Familie \(e_1,\dots , e_n\) der Standardbasisvektoren in \(K^n\) linear unabhängig.
Ist \((v_i)_{i\in I}\) eine linear unabhängige Familie von Elementen eines Vektorraums \(V\) und \(J\subseteq I\) eine Teilmenge, so ist auch \((v_i)_{i\in J}\) linear unabhängig.
Die leere Menge von Vektoren ist aus trivialen Gründen linear unabhängig.
Jede Familie, in der der Nullvektor vorkommt, ist linear abhängig.
Seien \(K\) ein Körper, \(V\) ein \(K\)-Vektorraum, \(v_1,\dots , v_n\in V\), \(n\ge 1\). Dann sind äquivalent:
Die Familie \(v_1, \dots , v_n\) ist linear unabhängig
Für alle \(v\in \langle v_1, \dots , v_n \rangle \), existiert eine eindeutig bestimmte Darstellung von \(v\) als Linearkombination von \(v_1,\dots , v_n\).
Für alle \(i\) gilt: \(v_i\not \in \langle v_1, \dots , v_{i-1}, v_{i+1}, \dots , v_n\rangle \).
Für alle \(i\) gilt: \(\langle v_1, \dots , v_{i-1}, v_{i+1}, \dots , v_n\rangle \subsetneq \langle v_1, \dots , v_n\rangle \).
Es sind \(v_1, \dots , v_{n-1}\) linear unabhängig und \(v_n \not \in \langle v_1,\dots , v_{n-1}\rangle \).
Wir führen Induktion nach \(n\). Für \(n=1\) ist die Sache klar: alle Bedingungen sind äquivalent zu \(v_1\ne 0\). Wir dürfen daher im folgenden annehmen, dass die 5 Aussagen für Familien von \(n-1\) Vektoren äquivalent sind.
Wir beweisen nun die folgenden Implikationen; daraus folgt die gewünschte Äquivalenz.
(i) \(\Leftrightarrow \) (ii). Wenn es ein \(v\) gäbe, das zwei verschiedene Darstellungen
hätte, so wäre
eine nichttriviale Linearkombination, die den Nullvektor darstellt, im Widerspruch zu (i).
(iii) \(\Rightarrow \) (iv) ist klar und (iii) \(\Leftarrow \) (iv) ist einfach.
(i) \(\Rightarrow \) (iii). Beweis durch Widerspruch: Angenommen, es wäre \(v_i \in \langle v_1, \dots , v_{i-1}, v_{i+1}, \dots , v_n\rangle \). Das hieße, dass sich \(v_i\) als Linearkombination von \(v_1, \dots , v_{i-1}, v_{i+1}, \dots , v_n\) schreiben ließe:
was wir umschreiben können zu
Dies ist eine Linearkombination, die den Nullvektor darstellt. Da der Koeffizient von \(v_i\) aber \(\ne 0\) ist, können dann die Vektoren \(v_1, \dots , v_n\) nicht linear unabhängig sein.
(iii) \(\Rightarrow \) (v). Wenn (iii) gilt, so gilt erst recht \(v_i\not \in \langle v_1, \dots , v_{i-1}, v_{i+1}, \dots , v_{n-1}\rangle \) für \(i=1, \dots , n-1\), also sind nach Induktionsvoraussetzung die Vektoren \(v_1\), …, \(v_{n-1}\) linear unabhängig. Damit ist klar, dass aus (iii) Bedingung (v) folgt.
(v) \(\Rightarrow \) (i). Sei
eine Linearkombination, die den Nullvektor darstellt. Wegen \(v_n \not \in \langle v_1,\dots , v_{n-1}\rangle \) muss dann \(a_n =0\) sein. Weil \(v_1, \dots , v_{n-1}\) linear unabhängig sind, folgt daraus aber, dass alle \(a_i\) verschwinden. Also ist die Familie \(v_1, \dots , v_n\) linear unabhängig.