5.1 Normale Körpererweiterungen
Sei \(K\) ein Körper und sei \((f_i)_{i\in I}\) eine Familie von Polynomen in \(K[X]\).
Ein Erweiterungskörper \(L\) von \(K\) heißt Zerfällungskörper der Familie \((f_i)_i\), wenn die folgenden beiden Bedingungen erfüllt sind:
Jedes \(f_i\) zerfällt über \(L\) vollständig in Linearfaktoren und
die Körpererweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) wird von den Nullstellen der Polynome \(f_i\) erzeugt.
Für den Beweis der Eindeutigkeit eines Zerfällungskörpers bis auf Isomorphismus werden wir das folgende Lemma verwenden.
Seien \(K\) ein Körper und seien \(E, E'\) Erweiterungskörper von \(K\). Sei \(f\in K[X]\) ein Polynom, das sowohl in \(E\) als auch in \(E'\) vollständig in Linearfaktoren zerfällt. Dann induziert jeder \(K\)-Homomorphismus \(\sigma \colon E\to E'\) eine Bijektion \(V(f, E)\stackrel{\sim }{\smash {\longrightarrow }\rule{0pt}{0.4ex}}V(f, E')\) zwischen den Nullstellenmengen von \(f\) in \(E\) und in \(E'\).
Wir schreiben \(f = c (X-\alpha _1)\cdots (X-\alpha _d)\) mit \(c\in K\), \(\alpha _i\in E\), \(d = \deg (f)\). Der Homomorphismus \(\sigma \colon E\to E'\) induziert einen Ringhomomorphismus \(E[X]\to E'[X]\), der dadurch gegeben ist, dass auf alle Koeffizienten eines gegebenen Polynoms in \(E[X]\) der Homomorphismus \(\sigma \) angewendet wird. (Wir können das als Einsetzungshomomorphismus mit \(X\mapsto X\) sehen, wenn wir \(E'\) mittels \(\sigma \) als \(E\)-Algebra betrachten.)
Unter dieser Abbildung wird \(f\) auf \(f\) abgebildet, weil \(f\in K[X]\) ist und \(\sigma \) ein \(K\)-Homomorphismus ist. Andererseits wird das Produkt \(c (X-\alpha _1)\cdots (X-\alpha _d)\), weil es sich hier um einen Ringhomomorphismus handelt, auf \(c (X-\sigma (\alpha _1))\cdots (X-\sigma (\alpha _d))\in E'[X]\) abgebildet. Das bedeutet aber genau, dass \(\sigma (\alpha _1), \dots , \sigma (\alpha _d)\) die Nullstellen von \(f\) in \(E'\) sind. Insbesondere schränkt sich \(\sigma \) zu einer Abbildung \(V(f, E)\to V(f, E')\) ein und diese ist surjektiv. Als Einschränkung der injektiven Abbildung \(\sigma \colon E\to E'\) ist sie auch injektiv.
Sei \(K\) ein Körper und sei \((f_i)_{i\in I}\) eine Familie von Polynomen in \(K[X]\).
Es existiert ein Zerfällungskörper der gegebenen Familie von Polynomen.
Sind \(L\) und \(L'\) Zerfällungskörper der Familie \((f_i)_i\), so existiert ein \(K\)-Isomorphismus \(L\stackrel{\sim }{\smash {\longrightarrow }\rule{0pt}{0.4ex}}L'\).
Zu (1). Für endlich viele Polynome haben wir das schon bewiesen (Korollar 4.24). Im allgemeinen Fall verwenden wir, dass \(K\) einen algebraischen Abschluss \(\overline{K}\) besitzt (Theorem 4.31). Sei \(L\subseteq \overline{K}\) dann der von den Nullstellen aller \(f_i\) erzeugte Erweiterungskörper von \(K\). Es ist klar, dass \(L\) ein Zerfällungskörper der Familie \((f_i)_i\) ist.
Zu (2). Sei \(\overline{L'}\) ein algebraischer Abschluss von \(L'\). Weil die Erweiterung \(\left.L'\middle /K\right.\) algebraisch ist, ist dann \(\overline{L'}\) auch ein algebraischer Abschluss von \(K\). Nach Satz 4.33 gibt es einen \(K\)-Homomorphismus \(\sigma \colon L\to \overline{L'}\). Für jedes Polynom \(f_i\) sind nach dem vorherigen Lemma die Bilder der Nullstellen von \(f_i\) die Nullstellen von \(f_i\) in \(L'\). Weil diese Nullstellen die Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) erzeugen, liegt das Bild von \(\sigma \) in \(L'\). Weil \(L'\) von den Nullstellen der \(f_i\) erzeugt wird und das Bild von \(\sigma \) ein Teilkörper von \(L'\) ist, der alle diese Nullstellen enthält, ist \(\operatorname{Im}(\sigma )=L'\). Also induziert \(\sigma \) einen Isomorphismus \(L\to L'\).
Man beachte, dass der Isomorphismus in Teil (2) des Satzes in aller Regel nicht eindeutig bestimmt ist. In der Tat werden wir die Gesamtheit der Isomorphismen \(L\stackrel{\sim }{\smash {\longrightarrow }\rule{0pt}{0.4ex}}L'\) in dieser Situation im folgenden noch genauer studieren, jedenfalls in der Situation, dass \(\left.L\middle /K\right.\) endlich ist (Abschnitt 5.5).
Ist andererseits \((f_i)_i\) eine Familie von Polynomen über einem Körper \(K\) und \(M\) ein Erweiterungskörper von \(K\), in dem alle \(f_i\) vollständig in Linearfaktoren zerfallen, dann gibt es genau einen Teilkörper von \(M\), der ein Zerfällungskörper dieser Familie ist, nämlich den Teilkörper, der über \(K\) von allen Nullstellen aller \(f_i\) erzeugt wird. In dieser Situation sprechen wir auch von dem Zerfällungskörper der gegebenen Familie von Polynomen in \(M\).
Sei \(\left.L\middle /K\right.\) eine algebraische Körpererweiterung und \(\overline{L}\) ein algebraischer Abschluss von \(L\). Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent.
Es gibt eine Familie von Polynomen in \(K[X]\), derart dass \(L\) ein Zerfällungskörper dieser Familie ist.
Für jeden \(K\)-Homomorphismus \(\varphi \colon L\to \overline{L}\) gilt \(\operatorname{Im}(\varphi )\subseteq L\).
Ist \(f\in K[X]\) ein irreduzibles Polynom, das in \(L\) eine Nullstelle besitzt, so zerfällt \(f\) über \(L\) vollständig in Linearfaktoren.
Die Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) heißt normal, wenn diese Bedingungen erfüllt sind.
(i) \(\Rightarrow \) (ii). Sei \((f_i)_i\) eine Familie von Polynomen, für die \(L\) ein Zerfällungskörper ist, und sei \(\sigma \) wie in (ii). Nach Lemma 5.2 liegen die Bilder aller Nullstellen der \(f_i\) unter \(\sigma \) in \(L\). Weil diese Nullstellen \(L\) über \(K\) erzeugen, gilt \(\operatorname{Im}(\varphi )\subseteq L\). (Genauer gilt sogar \(\operatorname{Im}(\varphi )=L\), denn alle Nullstellen der \(f_i\) in \(\overline{L}\) liegen ja in \(\operatorname{Im}(\varphi )\).)
(ii) \(\Rightarrow \) (iii). Sei \(f\in K[X]\) irreduzibel. Sind \(\alpha \in L\) und \(\beta \in \overline{L}\) Nullstellen von \(f\), dann gibt es nach Satz 4.25 (genau) einen \(K\)-Homomorphismus \(K[\alpha ]\to \overline{L}\) mit \(\alpha \mapsto \beta \). Diesen können wir nach Satz 4.33 zu einem \(K\)-Homomorphismus \(\varphi \colon L\to \overline{L}\) fortsetzen, der nach (ii) Bild in \(L\) hat. Da \(\beta =\sigma (\alpha )\) im Bild liegt, folgt \(\beta \in L\).
(iii) \(\Rightarrow \) (i). Unter Voraussetzung (iii) ist \(L\) der Zerfällungskörper aller irreduziblen Polynome auf \(K[X]\), die in \(L\) eine Nullstelle besitzen: Nach Voraussetzung zerfallen alle diese Polynome über \(L\) vollständig in Linearfaktoren. Dass ihre Nullstellen \(L\) erzeugen ist klar, denn jedes Element von \(L\) ist Nullstelle eines irreduziblen Polynoms über \(K\), nämlich seines Minimalpolynoms.
Quadratische Erweiterungen (also Erweiterungen vom Grad \(2\)) sind normal. (Warum? – Eine beliebte Prüfungsfrage…)
Die Erweiterung \(\left.\mathbb Q(\sqrt[3]{2})\middle /\mathbb Q\right.\) ist nicht normal. Die Nullstellen des irreduziblen Polynoms \(X^3-2\) in \(\mathbb C\) sind \(\sqrt[3]{2}\), \(\zeta \sqrt[3]{2}\), \(\zeta ^2\sqrt[3]{2}\), wobei \(\zeta = e^{\frac{2\pi i}{3}}\) ist, also \(\zeta ^3 = 1\). Weil \(\mathbb Q(\sqrt[3]{2})\subseteq \mathbb R\) gilt, kann der Körper \(\mathbb Q(\sqrt[3]{2})\) die beiden nicht-reellen Nullstellen nicht enthalten.
Ist \(\overline{K}\) ein algebraischer Abschluss von \(K\), so ist die Erweiterung \(\left.\overline{K}\middle /K\right.\) normal.
Seien \(\left.E\middle /K\right.\) und \(\left.L\middle /E\right.\) Körpererweiterungen. Ist die Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) normal, so ist auch die Erweiterung \(\left.L\middle /E\right.\) normal.
Ist \(L\) ein Zerfällungskörper einer Familie von Polynomen mit Koeffizienten in \(K\), so ist \(L\) auch Zerfällungskörper derselben Familie von Polynomen, nun aufgefasst als Polynome mit Koeffizienten in \(E\).
Allerdings – und das ist im Grunde die interessantere Tatsache – ist in der Situation des Lemmas die Erweiterung \(\left.E\middle /K\right.\) nicht unbedingt normal. Und wenn \(\left.E\middle /K\right.\) und \(\left.L\middle /E\right.\) normale Körpererweiterungen sind, ist die Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) nicht unbedingt normal. (Suchen Sie sich Beispiele für diese beiden Situationen!)
Sei \(\left.L\middle /K\right.\) eine algebraische Körpererweiterung.
Es existiert ein Erweiterungskörper \(L'\) von \(L\), so dass die Erweiterung \(\left.L'\middle /K\right.\) normal ist, und so dass kein echter Teilkörper von \(L'\), der \(L\) enthält, normal über \(K\) ist. Der Körper \(L'\) ist bis auf \(K\)-Isomorphismus eindeutig bestimmt.
Ist die Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) endlich, so ist auch \(\left.L'\middle /K\right.\) endlich.
Ist \(\left.M\middle /K\right.\) eine normale Erweiterung, so dass \(L\) in \(M\) enthalten ist, so ist der von allen \(\sigma (L)\), \(\sigma \in \operatorname{Hom}_K(L, M)\), über \(K\) erzeugte Teilkörper \(L'\subseteq M\) der eindeutig bestimmte Zwischenkörper von \(\left.M\middle /K\right.\), der die Eigenschaft in Teil (1) hat.
Wir nennen \(L'\) eine normale Hülle der Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) (bzw. in der Situation von Teil (3) die normale Hülle von \(\left.L\middle /K\right.\) in \(M\)). Manchmal spricht man auch vom normalen Abschluss.
Wir beginnen mit Teil (3) und beweisen zunächst:
Behauptung. Der in (3) beschriebene Körper \(L'\) ist der Teilkörper \(L''\) von \(M\), der von den Nullstellen aller Minimalpolynome von Elementen von \(L\) (über \(K\)) erzeugt wird.
Begründung. Weil alle Minimalpolynome von Elementen von \(L\) über \(K\) irreduzibel sind und eine Nullstelle in \(L\subseteq M\) besitzen, zerfallen sie über dem normalen Erweiterungskörper \(M\) von \(K\) vollständig in Linearfaktoren.
Die Inklusion \(L' \subseteq L''\) gilt, weil jeder \(K\)-Homomorphismus \(\sigma \) Nullstellen von Polynomen in \(K[X]\) auf Nullstellen desselben Polynoms abbildet. Die Inklusion \(L''\subseteq L'\) folgt, weil es zu jeder Nullstelle \(\beta \in M\) von \(\operatorname{minpol}_{\alpha , K}\), \(\alpha \in L\), einen \(K\)-Homomorphismus \(L\to M\) mit \(\sigma (\alpha )=\beta \) gibt (Satz 4.25, Satz 4.33, Satz 5.4).
Damit ist klar, dass \(L'\) über \(K\) normal ist. Weil die Minimalpolynome aller Elemente von \(L\) in jedem Erweiterungskörper von \(L\), der über \(K\) normal ist, zerfallen müssen, kann es keinen kleineren Erweiterungskörper von \(L\) mit dieser Eigenschaft geben als \(L'\).
Zu (1). Nachdem wir Teil (3) bereits bewiesen haben, ist nur noch die Eindeutigkeit zu zeigen. Jedes \(L'\) wie in (1) ist der Zerfällungskörper aller Minimalpolynome (über \(K\)) von Elementen von \(L\). Daher folgt die Eindeutigkeitsaussage aus der entsprechenden Eindeutigkeitsaussage für den Zerfällungskörper einer Familie von Polynomen (Satz 5.3 (2)).
Zu (2). Wird \(L\) über \(K\) erzeugt von \(\alpha _1, \dots , \alpha _n\), so ist der Teilkörper eines algebraischen Abschlusses von \(L\), der von allen Nullstellen der Minimalpolynome der \(\alpha _i\) erzeugt wird, als Zerfällungskörper einer Familie von Polynomen normal über \(K\) und daher eine normale Hülle von \(\left.L\middle /K\right.\). Da es sich hier nur um endlich viele Polynome handelt, ist dieser Erweiterungskörper endlich erzeugt über \(K\), also auch endlich, weil die Erweiterung algebraisch ist.
In der Behauptung im Beweis könnte man äquivalent \(L''\) als den Zerfällungskörper aller Minimalpolynome der Elemente irgendeines Erzeugendensystems von \(L\) als Erweiterungskörper von \(K\) definieren. Noch einmal konkret ausgeschrieben bedeutet das: Die normale Hülle von \(L = K(\alpha _i,\ i\in I)\) in einem algebraischen Abschluss \(\overline{L}\) über einem Körper \(K\) ist der Zerfällungskörper aller Polynome \(\operatorname{minpol}_{\alpha _i, K}\), \(i\in I\).
Frage/Übung (im Moment noch schwierig): Gibt es eine normale Erweiterung \(\left.K\middle /\mathbb Q\right.\) von Grad \(3\)?