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5.6 Die Galois-Gruppe einer Gleichung

In diesem Abschnitt definieren wir den Begriff der Galois-Gruppe einer Gleichung (bzw. eines Polynoms), und zwar ist dies einfach die Galois-Gruppe eines Zerfällungskörpers des gegebenen Polynoms. Speziell, wenn man sich für die Nullstellen eines bestimmten Polynoms interessiert, dann ist dies eine nützliche Sprechweise. Historisch gesehen ist sie wesentlich näher an der Sichtweise, die in den Arbeiten von Galois verwendet wird. Für den allgemeinen Aufbau und die Flexibilität der Theorie hat sich aber bewährt, den Begriff des Körperautomorphismus in den Vordergrund zu stellen, wie es als Erster Richard Dedekind (1831–1916) getan hat.

Definition 5.59

Sei \(K\) ein Körper und \(f\in K[X]\) ein separables Polynom. Sei \(L\) ein Zerfällungskörper von \(f\) über \(K\). Dann ist die Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) galoissch, ihre Galois-Gruppe hängt nicht von der Wahl von \(L\) ab und heißt auch die Galois-Gruppe der Gleichung \(f(x) = 0\).

Die Unabhängigkeit von der Wahl des Zerfällungskörpers folgt daraus, dass je zwei Zerfällungskörper über \(K\) isomorph sind, wie wir in Satz 5.3 gezeigt haben.

Satz 5.60

Sei \(K\) ein Körper, \(\overline{K}\) ein algebraischer Abschluss und \(f\in K[X]\) ein separables Polynom vom Grad \(n\in \mathbb N\) mit Zerfällungskörper \(L\subseteq \overline{K}\). Sei \(G = \operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\) die Galois-Gruppe der Gleichung \(f(x)=0\). Seien \(\alpha _1,\dots , \alpha _n\in L\) die (nach Voraussetzung paarweise verschiedenen) Nullstellen von \(f\) in \(\overline{K}\).

Jedes Element von \(G\) induziert dann eine Permutation der \(\alpha _i\), und wir erhalten so einen injektiven Gruppenhomomorphismus \(G\to S_n\). Insbesondere gilt \(\# G\, |\, n!\).

Das Polynom ist genau dann irreduzibel in \(K[X]\), wenn \(G\) transitiv auf der Menge \(\{ \alpha _1, \dots , \alpha _n\} \) operiert.

Beweis

Dass jedes Element von \(G\) die Nullstellen von \(f\) permutiert, ist klar, denn für \(\sigma \in G\) und jede Nullstelle \(\alpha \) von \(f\) gilt \(f(\sigma (\alpha )) = \sigma (f(\alpha )) = 0\), wobei wir hier wieder \(\sigma \) für den Ringautomorphismus \(L[X]\to L[X]\) schreiben, der dadurch gegeben ist, \(\sigma \) auf alle Koeffizienten anzuwenden. Vergleiche Satz 4.25, wo dasselbe Argument verwendet wird.

Wenn \(f\) irreduzibel ist, dann ist es das Minimalpolynom der Elemente \(\alpha _i\) (insbesondere haben diese alle dasselbe Minimalpolynom). Aus dem schon zitierten Satz 4.25 folgt, dass es für alle \(i, j\) einen \(K\)-Homomorphismus \(K(\alpha _i)\to L\) mit \(\alpha _i\mapsto \alpha _j\) gibt, und diesen können wir wegen der Normalität von \(L\) über \(K\) fortsetzen zu einem \(K\)-Homomorphismus \(L\to L\), also einem Element von \(\operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\).

Ist andererseits \(f\) nicht irreduzibel in \(K[X]\) und sind \(\alpha _i\) und \(\alpha _j\) Nullstellen von zwei verschiedenen Teilern von \(f\) in \(K[X]\), dann kann es keinen \(K\)-Homomorphismus geben, der \(\alpha _i\) auf \(\alpha _j\) abbildet, weil \(\alpha _i\) nur auf eine Nullstelle von \(\operatorname{minpol}_{\alpha _i, K}\) abgebildet werden kann.

L’algèbre est généreuse, elle donne souvent plus qu’on lui demande.

J. d’Alembert

Auf Deutsch etwa: Die Algebra ist großzügig, sie gibt oft mehr, als man von ihr verlangt.

Wir wollen noch die Diskriminante eines Polynoms definieren.

Definition 5.61

Seien \(K\) ein Körper, \(f\in K[X]\) ein normiertes Polynom, \(\left.L\middle /K\right.\) ein Zerfällungskörper von \(f\) und \(f = \prod _{i=1}^n (X-\alpha _i)\) mit \(\alpha _i\in L\) die Zerlegung von \(f\) in Linearfaktoren in \(L[X]\). Dann nennt man

\[ \Delta (f) = \prod _{i {\lt} j} (\alpha _j-\alpha _i)^2 \]

die Diskriminante des Polynoms \(f\).

Man findet in der Literatur teilweise auch die Definition \(\prod _{i \ne j} (\alpha _j-\alpha _i)\), die aber mit unserer bis auf das Vorzeichen (also gegebenenfalls einen Faktor \(-1\)) übereinstimmt. Es gilt dann der folgende Satz.

Satz 5.62

Sei \(f\) wie in der Definition.

  1. Es gilt genau dann \(\Delta (f) = 0\), wenn \(f\) in \(L\) eine mehrfache Nullstelle hat.

  2. Es gilt \(\Delta (f) \in K\).

Beweis

Teil (1) ist offensichtlich, und wenn \(f\) eine mehrfache Nullstelle hat, dann ist natürlich \(\Delta (f) = 0 \in K\). Sonst ist \(f\) separabel und damit \(\left.L\middle /K\right.\) eine Galois-Erweiterung. Dann folgt \(\Delta (f)\in K\), weil jeder \(K\)-Automorphismus \(L\to L\) die Nullstellenmenge von \(f\) auf sich abbildet (Lemma 5.2), und daher das Element \(\Delta (f)\) fixiert. Also liegt \(\Delta (f)\) im Fixkörper \(K\) von \(L\) unter \(\operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\).

Beispiel 5.63
  1. Hat \(f\) Grad \(0\) oder \(1\), so ist \(\Delta (f) = 1\).

  2. Hat \(f = X^2 + pX + q\) Grad \(2\), so sind die Nullstellen von \(f\) die Elemente

    \[ \alpha _1= \frac{-p+\sqrt{p^2-4q}}{2},\quad \alpha _2 = \frac{-p-\sqrt{p^2-4q}}{2} \]

    wobei wir hier eine der beiden Quadratwurzeln von \(p^2-4q\) in \(L\) willkürlich wählen und mit \(\sqrt{p^2-4q}\) bezeichnen. Die folgende Berechnung ist von dieser Wahl unabhängig. Wir sehen, dass

    \[ \Delta (f) = (\alpha _1 - \alpha _2)^2 = p^2-4q \]

    gilt.

  3. Ist \(f\) ein Polynom vom Grad \(3\) von der speziellen Form \(f = X^3 + aX + b\), \(a,b\in K\), so gilt

    \[ \Delta (f) = -4a^3-27b^2. \]

    Dies kann man (wenn man die Formel erstmal hat) leicht nachrechnen, indem man \(a\) und \(b\) in Termen der Nullstellen von \(f\) ausdrückt.

Man kann zeigen, dass sich wie in den obigen Beispielen für jedes Polynom die Diskriminante durch einen Polynomausdruck in den Koeffizienten von \(f\) ausdrücken lässt, der nur vom Grad von \(f\) abhängt. Wenn man diese Formel kennt, wie zum Beispiel die Formel \(\Delta (f) = -4a^3-27b^2\) im obigen Beispiel, Teil (3), kann man also überprüfen, ob \(f\) (in irgendeinem Erweiterungskörper) mehrfache Nullstellen hat, ohne diese Nullstellen zu kennen.

Sei in der Situation und mit der Notation von Definition 5.61 nun \(f\) separabel und

\[ \delta = \prod _{i {\lt} j} (\alpha _j-\alpha _i). \]

Offenbar gilt \(\delta ^2 = \Delta (f)\), also ist \(\delta \) eine Quadratwurzel von \(\Delta (f)\) (in \(L\)). Jedes Element \(\sigma \in \operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\) induziert eine Permutation der Nullstellenmenge \(V(f, L)\), die wir wieder mit \(\sigma \) bezeichnen, vergleiche Satz 5.60. Wir erhalten so einen injektiven Gruppenhomomorphismus \(\operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\to S_n\), \(n=\deg (f)\). Es gilt dann \(\sigma (\delta ) = \operatorname{sgn}(\sigma )\delta \), wie man an der Interpretation des Signums einer Permutation an der Anzahl ihrer Fehlstände sieht. Damit erhalten wir den folgenden Satz.

Satz 5.64

Seien \(K\) ein Körper, \(f\in K[X]\) ein separables normiertes Polynom vom Grad \(n\), \(\left.L\middle /K\right.\) ein Zerfällungskörper von \(f\) und \(\operatorname{sgn}\colon \operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\to \{ 1, -1\} \) der Gruppenhomomorphismus, der als Verkettung des oben beschriebenen Homomorphismus \(\operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\to S_n\) und des Signumshomomorphismus besteht. (Die Abbildung \(\operatorname{sgn}\) ist unabhängig von der Nummerierung der Nullstellen von \(f\).)

Sei \(H\subseteq \operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\) die Untergruppe aller Elemente \(\sigma \in \operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\) mit \(\operatorname{sgn}(\sigma )=1\).

Dann gilt \(L^H = K(\sqrt{\Delta (f)})\), wobei \(\sqrt{\Delta (f)}\) eine Quadratwurzel der Diskriminante von \(f\) in \(L\) ist.

Beweis

Im Grunde ist schon fast alles gesagt: Wir können mit der obigen Situation \(\sqrt{\Delta (f)} = \delta \) wählen, und dann sind die Elemente von \(H\) genau die Automorphismen von \(\operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\), die \(\delta \) festhalten. Weil entweder \(H=\operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\) gilt, oder \(H\) Index \(2\) in \(\operatorname{Gal}(\left.L\middle /K\right.)\) hat, ist \(L^H\) gleich \(K\) oder hat Grad \(2\) über \(K\) (und wird dann von irgendeinem beliebigen Element aus \(L^H\setminus K\) erzeugt).