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3.5 Der Satz von Gauß

Um zu entscheiden, ob ein Polynom in \(\mathbb Q[X]\) irreduzibel ist, ist es oft nützlich, die Frage als eine Frage über ein Polynom mit Koeffizienten in \(\mathbb Z\) zu formulieren (indem man das gegebene Polynom mit einer geeigneten ganzen Zahl multipliziert, kann man eventuell auftretende Nenner »beseitigen«). Im faktoriellen Ring \(\mathbb Z\) liefert dann die durch die Primzahlen gegebene Struktur zusätzliche Werkzeuge, zum Beispiel die Möglichkeit, die Koeffizienten »modulo einer Primzahl \(p\) zu reduzieren«, also das Polynom in \(\mathbb F_p[X]\) zu betrachten, das entsteht, wenn jeder Koeffizient durch seine Restklasse modulo \(p\) ersetzt wird.

Eine wesentliche Grundlage dieser Methoden ist die Tatsache, dass auch der Ring \(\mathbb Z[X]\) faktoriell ist (auch wenn es sich nicht um einen Hauptidealring handelt). Allgemeiner besagt der Satz von Gauß, dass der Polynomring über einem faktoriellen Ring \(R\) ebenfalls faktoriell ist, und er liefert darüberhinaus eine Beschreibung der irreduziblen Elemente in \(R[X]\) in Termen des Polynomrings \(\operatorname{Quot}(R)[X]\) über dem Quotientenkörper von \(R\).

Ein konkretes Beispiel einer nützlichen Folgerung sehen wir in Beispiel 3.48.

Definition 3.42

Sei \(R\) ein faktorieller Ring und sei \(p\) ein Primelement von \(R\). Sei \(K\) der Quotientenkörper von \(R\).

Für \(x\in K^\times \) schreiben wir \(v_p(x)\) für die eindeutig bestimmte ganze Zahl \(m\), so dass sich \(x\) in der Form \(x = p^m y\) für ein \(y\in K^\times \) schreiben lässt, in dessen Darstellung als gekürzter Bruch weder der Zähler noch der Nenner durch \(p\) teilbar sind.

Außerdem setzen wir \(v_p(0) = \infty \).

Das ist (abgesehen von der neuen Konvention über das Nullelement) dieselbe Zahl \(v_p(x)\) wie oben.

Sind in der Situation der Definition \(p, p'\in R\) zueinander assoziierte Primelemente, so gilt \(v_p(x) = v_{p'}(x)\) für alle \(x\in K\). Es ist genau dann \(x\in R\), wenn \(v_p(x) \ge 0\) für alle Primelemente \(p\) von \(R\) gilt. Äquivalent genügt es, diese Bedingung für alle Elemente eines Vertretersystems der Primelemente bis auf Assoziiertheit nachzuprüfen.

Ist \(p\) ein Primelement von \(R\) und \(\operatorname{red}_p\colon R\to R/(p)\) die kanonische Projektion, so gilt für \(x\in R\) genau dann \(\operatorname{red}_p(x)=0\), wenn \(v_p(x) {\gt} 0\) ist.

Entscheidend sind für das Folgende das Verhalten der Abbildungen \(v_p\) bei der Anwendung auf Produkte bzw. Summen, wie es im nächsten Lemma beschrieben wird. Machen Sie sich dessen Aussage insbesondere im Fall \(R=\mathbb Z\) klar!

Lemma 3.43

Sei \(R\) ein faktorieller Ring und sei \(p\) ein Primelement von \(R\). Sei \(K\) der Quotientenkörper von \(R\) und seien \(x, y\in K\). Dann gilt:

  1. \(v_p(xy) = v_p(x) + v_p(y)\),

  2. \(v_p(x+y) \ge \min (v_p(x), v_p(y))\).

Beweis

Ist \(x=0\) oder \(y=0\), dann sind die beiden Aussagen leicht nachzuprüfen (wenn in der offensichtlichen Weise mit \(\infty \) gerechnet wird).

Sei nun \(x\ne 0\), \(y\ne 0\). Wir schreiben \(x = p^{v_p(x)} x'\) und \(y = p^{v_p(y)} y'\) mit \(p\nmid x'\), \(p\nmid y'\). Weil \(p\) ein Primelement ist, gilt dann auch \(p\nmid x' y'\). Daraus folgt direkt Teil (1).

Für Teil (2) sei ohne Einschränkung \(v_p(x) \le v_p(y)\). Dann ist \(x+y= p^{v_p(x)} (x' + p^{v_p(y)-v_p(x)} y')\), also \(v_p(x+y) = v_p(x) + v_p(x' + p^{v_p(y)-v_p(x)} y') \ge v_p(x) = \min (v_p(x), v_p(y))\).

Teil (2) des Lemmas kann man im Fall \(v_p(x) \ne v_p(y)\) noch präzisieren – unter dieser stärkeren Voraussetzung gilt \(v_p(x+y) = \min (v_p(x), v_p(y))\).

Ergänzung 3.44 Bewertungen

Sei \(K\) ein Körper. Eine Funktion \(v\colon K^\times \to \mathbb Z\) mit

  1. \(v(xy) = v(x) + v(y)\),

  2. \(v(x+y) \ge \min (v(x), v(y))\)

für alle \(x,y\in K^\times \) nennt man eine Bewertung auf \(K\). (Auf Englisch: valuation, das erklärt auch die Verwendung des Buchstaben »v«.) Wir setzen stets \(v(0) := \infty \).

Beispiele erhält man wie oben, wenn \(K\) der Quotientenkörper eines faktoriellen Rings \(R\) ist und \(v=v_p\) für ein Primelement \(p\in R\) ist. Zum Beispiel kann man \(R=\mathbb Z\), \(K=\mathbb Q\), \(p\) eine Primzahl betrachten; man spricht dann von der \(p\)-adischen Bewertung auf \(\mathbb Q\).

Ist \(v\) eine Bewertung auf dem Körper \(K\) und \(r\in \mathbb R\) mit \(0 {\lt} r {\lt} 1\), so kann man durch

\[ \lvert x\rvert := r^{v(x)} \]

einen Absolutbetrag auf \(K\) definieren (dabei verstehen wir die Definition so, dass \(\lvert 0\rvert :=0\) sei), also eine Funktion \(K\to \mathbb R_{\ge 0}\) mit den folgenden drei Eigenschaften für alle \(x,y,z\in K\):

  1. \(x = 0\)  \(\Leftrightarrow \) \(\lvert x\rvert = 0\),

  2. \(\lvert xy\rvert = \lvert x\rvert \cdot \lvert y\rvert \),

  3. (Dreiecksungleichung) \(\lvert x+y\rvert \le \lvert x\rvert + \lvert y\rvert \).

Diese Betragsfunktion liefert eine Abstandsfunktion (oder: Metrik) auf \(K\) durch \(d(x,y):=\lvert y-x\rvert \), aus der man weitere geometrische Begriffe ableiten kann.

Ein Absolutbetrag, der wie oben von einer Bewertung herkommt, erfüllt sogar die sogenannte starke Dreiecksungleichung

\[ \lvert x+y\rvert \le \max (\lvert x\rvert , \lvert y\rvert ), \]

wie unmittelbar aus dem Verhalten von Bewertungen folgt, wenn man Summen einsetzt. Diese starke Dreiecksungleichung widerspricht allerdings recht drastisch unserer üblichen geometrischen Anschauung. Für den gewöhnlichen Absolutbetrag auf \(\mathbb R\) ist sie nicht richtig; dies zeigt, dass der gewöhnliche Absolutbetrag auf \(\mathbb R\) nicht von einer Bewertung her stammt. Für einen Absolutbetrag, der von einer Bewertung kommt, gilt zum Beispiel \(\lvert n\rvert \le 1\) für alle \(n\in \mathbb Z\).

Definition 3.45

Sei \(R\) ein faktorieller Ring und sei \(p\) ein Primelement von \(R\). Sei \(K\) der Quotientenkörper von \(R\).

Für \(f = \sum _{i=0}^n a_i X^i \in K[X]\) definieren wir

\[ v_p(f) := \min \{ v_p(a_i);\ i=0,\dots , n\} . \]

(Für \(f=0\) setzen wir wieder \(v_p(f) = \infty \).)

Es gilt dann also für \(f\in K[X]\): Es ist \(f\in R[X]\) genau dann, wenn \(v_p(f) \ge 0\) ist für alle Primelemente \(p\) von \(R\).

Für \(p\in R\) induziert die kanonische Projektion \(\operatorname{red}_p\colon R\to R/(p)\) einen Ringhomomorphismus \(\colon R[X] \to (R/(p))[X]\), der dadurch gegeben ist, dass auf alle Koeffizienten eines Polynoms \(f\in R[X]\) die Abbildung \(\operatorname{red}_p\) angewendet wird. Wir können diese Abbildung als Einsetzungshomomorphismus verstehen, wenn wir \(R/(p)\) vermöge \(\operatorname{red}_p\) als \(R\)-Algebra auffassen und \(X\in R[X]\) auf \(X\in (R/(p))[X]\) abgebildet wird. Damit ist ohne weitere Rechnung klar, dass es sich um einen Ringhomomorphismus handelt, den wir die Reduktion der Koeffizienten modulo \(p\) nennen und wieder mit \(\operatorname{red}_p\) bezeichnen.

Lemma 3.46 Lemma von Gauß

Sei \(R\) ein faktorieller Ring und sei \(p\) ein Primelement von \(R\). Sei \(K\) der Quotientenkörper von \(R\) und seien \(f, g\in K[X]\). Dann gilt: \(v_p(fg) = v_p(f) + v_p(g)\).

Beweis

Ist \(f=0\) oder \(g=0\), so sind beide Seiten per Definition gleich \(\infty \). Daher nehmen wir im folgenden an, dass \(fg\ne 0\) gilt. Es ist klar, dass die Formel richtig ist, wenn \(f\) konstant ist. Das bedeutet auch, dass es genügt, den Satz für \(f, g\in R[X]\) mit \(v_p(f) = v_p(g) = 0\) zu beweisen. (Denn daraus erhalten wir den allgemeinen Fall, indem wir mit geeigneten Elementen aus \(K^\times \) multiplizieren.)

Für \(f,g\in R[X]\) gilt natürlich \(fg\in R[X]\), so dass wir bereits \(v_p(fg) \ge 0 = v_p(f) + v_p(g)\) sehen. Die andere Abschätzung erhalten wir durch Reduktion der Koeffizienten modulo \(p\): Aus \(v_p(f)=v_p(g)=0\) folgt \(\operatorname{red}_p(f)\ne 0\), \(\operatorname{red}_p(g)\ne 0\). Weil \((R/(p))[X]\) ein Integritätsring ist, folgt \(\operatorname{red}_p(fg)\ne 0\) und sodann \(v_p(fg)=0\).

Korollar 3.47

Sei \(R\) ein faktorieller Ring und sei \(h\in R[X]\) normiert. Ist dann \(h=fg\) eine Zerlegung von \(h\) als Produkt von normierten Polynomen \(f, g\in K[X]\) so gilt \(f, g\in R[X]\).

Beweis

Nach Voraussetzung gilt für alle Primelemente \(p\in R\), dass \(v_p(h)=0\) (weil \(h\) in \(R[X]\) liegt und normiert ist) und \(v_p(f) \le 0\), \(v_p(g) \le 0\) (weil \(f\) und \(g\) normiert sind). Mit dem Lemma von Gauß folgt \(v_p(g)=v_p(h)=0\), und damit \(f, g\in R[X]\).

Beispiel 3.48

Sei \(f\in \mathbb Z[X]\) ein normiertes Polynom. Ist \(a\in \mathbb Q\) eine Nullstelle von \(f\), so gilt \(a\in \mathbb Z\) und \(a\) ist ein Teiler des Absolutkoeffizienten von \(f\). (Wende das Korollar an auf die Zerlegung \(f = (X-a) g\) in \(\mathbb Q[X]\), die man aus der Polynomdivision von \(f\) durch \(X-a\) erhält.)

Insbesondere gilt: Hat ein normiertes Polynom \(f\in \mathbb Z[X]\) keine Nullstellen in \(\mathbb Z\), dann hat \(f\) auch keine Nullstellen in \(\mathbb Q\).

Definition 3.49

Sei \(R\) ein faktorieller Ring. Ein Polynom \(f\in R[X]\) heißt primitiv, wenn \(f\ne 0\) und wenn \(1\) ein größter gemeinsamer Teiler der Koeffizienten von \(f\) ist.

Mit anderen Worten: Ein Polynom \(f\in R[X]\) ist genau dann primitiv, wenn \(v_p(f)=0\) für alle Primelemente \(p\in R\) gilt.

Satz 3.50 Satz von Gauß

Sei \(R\) ein faktorieller Ring, und sei \(K\) der Quotientenkörper von \(R\). Dann ist auch der Polynomring \(R[X]\) faktoriell.

Ein Element \(f\in R[X]\) ist genau dann ein Primelement, wenn

  1. \(\deg (f) = 0\) und \(f\) als Element von \(R\) prim ist, oder

  2. \(\deg (f) {\gt} 0\), \(f\) primitiv und \(f\) als Element von \(K[X]\) prim ist.

Beweis

Jedenfalls sind die angegebenen Elemente prim in \(R[X]\). Für \(f\) wie in (1) ist nämlich der Ring \(R/(f)\) und damit auch der Ring \((R/(f))[X]\cong R[X]/fR[X]\) ein Integritätsring. (Hier schreiben wir \(fR[X]\) für das von \(f\) in \(R[X]\) erzeugte Hauptideal.)

Für \(f\) wie in (2) argumentieren wir mit dem Lemma von Gauß. Gilt \(f\, |\, gh\) für \(g,h\in R[X]\), so teilt jedenfalls \(f\) in \(K[X]\) einen der Faktoren. Wir betrachten ohne Einschränkung den Fall \(f\, |\, g\) in \(K[X]\), sagen wir \(g = f r\) mit \(r\in K[X]\). Nach dem Lemma von Gauß gilt dann \(0 \le v_p(g) = v_p(fr) = v_p(f) + v_p(r) = v_p(r)\) für alle Primelemente \(p\) von \(R\), wobei wir ganz links ausgenutzt haben, dass \(g\in R[X]\) ist, und ganz rechts, dass \(f\) primitiv ist. Aus \(v_p(r) \ge 0\) für alle Primelemente \(p\) von \(R\) folgt, dass \(r\in R[X]\) gilt, die Teilbarkeitsbeziehung \(f\, |\, g\) gilt also sogar in \(R[X]\).

Wir zeigen nun, dass sich jedes Element aus \(R[X]\setminus (R^\times \cup \{ 0\} )\) als Produkt von Elementen der Form (1) und (2) schreiben lässt. Daraus folgt der Satz, und zwar auch, dass es keine weiteren Primelemente geben kann, denn jedes solche lässt sich ja auch als ein Produkt von Elementen aus dieser Liste schreiben, und in diesem Fall kann das Produkt nur einen einzigen Faktor haben.

Sei also \(f\in R[X]\) ein Polynom, das von \(0\) verschieden und keine Einheit in \(R[X]\) (äquivalent: keine Einheit in \(R\)) ist. Wenn wir \(f\) als Element von \(K[X]\) betrachten, können wir \(f\) in der Form \(f = u f_1\cdots f_r\) mit irreduziblen Polynomen \(f_i\in K[X]\) und \(u\in K^\times \) schreiben. Indem wir nötigenfalls \(u\) verändern, können wir alle in den \(f_i\) auftretenden Nenner und einen größten gemeinsamen Teiler der Koeffizienten jedes dieser Polynome »herausziehen« und daher annehmen, dass alle \(f_i\) sogar in \(R\) liegen und primitiv sind. Damit handelt es sich bei den \(f_i\) um Elemente der Form (2).

Wir zeigen nun, dass (im Fall, dass alle \(f_i\) primitiv sind) das Element \(u\in K^\times \) in \(R\) liegen muss. Dies folgt direkt aus dem Lemma von Gauß, das uns \(0\le v_p(f) = v_p(u) + \sum _i v_p(f_i) = v_p(u)\) für alle Primelemente \(p\) von \(R\) liefert. Weil \(u\) in \(R\) liegt, lässt es sich als Produkt von Elementen der Form (1) schreiben (oder ist eine Einheit in \(R\), und dann können wir einfach \(f_1\) durch \(uf_1\) ersetzen). Insgesamt erhalten wir so die gesuchte Produktdarstellung für \(f\).