4.1 Definitionen, einfache Eigenschaften
Wir verallgemeinern in diesem Abschnitt den Begriff der algebraischen Körpererweiterung, und zwar nennen wir ein Element eines Rings ganz über einem Unterring, wenn es ein normiertes Polynom gibt, das dieses Element als Nullstelle hat. In der folgenden Definition wird das noch etwas allgemeiner gefasst insofern als wir nicht unbedingt über einen Unterring sprechen müssen, sondern einen beliebigen (nicht notwendig injektiven) Ringhomomorphismus zugrundelegen können. Ein wichtiger Punkt ist, dass es im Kontext allgemeiner Ringe ein Unterschied ist, ob man fordert, dass ein Element Nullstelle eines normierten Polynoms oder irgendeines Polynoms \(\ne 0\) (jeweils mit Koeffizienten in einem vorgegebenen Ring) ist. Zum Beispiel ist \(\frac12\in \mathbb Q\) zwar Nullstelle des Polynoms \(2X-1\in \mathbb Z[X]\) (und jede rationale Zahl ist Nullstelle eines geeignet gewählten Polynoms in \(\mathbb Z[X]\setminus \{ 0\} \)), aber nicht Nullstelle eines normierten Polynoms in \(\mathbb Z[X]\) (dies ist nicht völlig offensichtlich, folgt aber aus dem Lemma von Gauß). Im Kontext von Ringen führt es auf den interessanteren Begriff, nur Nullstellen von normierten Polynomen zu erlauben. (Ist \(R\) ein Integritätsring, der Unterring eines Integritätsrings \(S\) ist, dann ist ein Element von \(S\) genau dann Nullstelle irgendeines Polynoms in \(R[X]\setminus \{ 0\} \), wenn das Element, aufgefasst als Element des Quotientenkörpers von \(S\), algebraisch ist über dem Quotientenkörper von \(R\). Im Fall eine Erweiterung von Integritätsringen würde man also auf diese Art und Weise nur den Begriff algebraisch umformulieren.)
Wie im Fall von Körpererweiterungen, wo wir algebraische Körpererweiterungen zusammen mit endlichen Erweiterungen untersucht haben, gibt es auch im Fall von Ringen einen Zusammenhang zum Begriff endlich erzeugter Moduln. (Eine Gradformel hat man im allgemeinen allerdings natürlich nicht, genauso wie man für Moduln keinen Dimensionsbegriff hat (jedenfalls keinen, der genauso »gut« funktioniert wie bei Vektorräumen).)
Sei \(\varphi \colon A\to B\) ein Ringhomomorphismus.
Ein Element \(b\in B\) heißt ganz über \(A\) (bezüglich \(\varphi \)), wenn ein normiertes Polynom \(f\in R[X]\) existiert mit \(f(b) = 0\).
Der Homomorphismus \(\varphi \) heißt ganz, falls jedes Element \(b\in B\) ganz über \(A\) ist.
Der Homomorphismus \(\varphi \) heißt endlich, falls \(B\) als \(A\)-Modul endlich erzeugt ist.
Oft, und insbesondere, wenn \(\varphi \) injektiv ist, was im Folgenden häufig der Fall sein wird, schreiben wir einfach \(a\) statt \(\varphi (a)\) für \(a\in A\), das heißt wir betrachten \(a\) als Element von \(B\), ohne das in der Notation deutlich zu machen.
Sind \(A\) und \(B\) Körper (und damit \(\varphi \) notwendigerweise injektiv, also können wir \(A\subseteq B\) als eine Körpererweiterung betrachten), dann ist ein Element \(b\in B\) genau dann ganz im Sinne der obigen Definition, wenn es algebraisch im Sinne der Algebra-Vorlesung ist. Der Ringhomomorphismus \(\varphi \) ist genau dann ganz, wenn die Erweiterung \(\left.B\middle /A\right.\) algebraisch ist. Der Ringhomomorphismus \(\varphi \) ist genau dann endlich, wenn die Erweiterung \(\left.B\middle /A\right.\) endlich ist.
Sei \(\varphi \colon A\to B\) ein Ringhomomorphismus. Für jedes Element \(a\in A\) ist \(\varphi (a)\) ganz über \(A\), denn es ist Nullstelle von \(X-a\).
Sei \(\varphi \colon \mathbb Z\to \mathbb Q\) die Inklusion. Die einzigen Elemente von \(\mathbb Q\), die ganz über \(\mathbb Z\) sind, sind die Elemente von \(\mathbb Z\).
Die Inklusion \(\mathbb Z\to \mathbb Z[\sqrt{2}] := \{ a+b\sqrt{2};\ a,b\in \mathbb Z\} \) ist endlich und ganz.
Sei \(\left.K\middle /\mathbb Q\right.\) eine algebraische Körpererweiterung. Ein Element \(\alpha \in K\) ist genau dann ganz über \(\mathbb Z\), wenn \(\operatorname{minpol}_{\alpha ,\mathbb Q}\) in \(\mathbb Z[X]\) liegt. (Warum?)
Als nächsten Schritt wollen wir uns überlegen, dass für ganze und endliche Ringhomomorphismen einige der Eigenschaften gelten, die wir für algebraische und endliche Körpererweiterungen kennen. Insbesondere werden wir zeigen, dass ein Ringhomomorphismus \(A\to B\) genau dann endlich ist, wenn er ganz ist und \(B\) als \(A\)-Algebra endlich erzeugt ist (im Sinne der folgenden Definition), und dass sich die Eigenschaften endlich und ganz transitiv unter Verkettung von Ringhomomorphismen verhalten.
Sei \(B\) eine \(A\)-Algebra. Dann heißt \(B\) eine endlich erzeugte \(A\)-Algebra, wenn die folgenden äquivalenten Bedingungen erfüllt sind:
Es existieren endlich viele Elemente \(b_1,\dots , b_n\in B\), so dass \(B\) die kleinste A-Unteralgebra von \(B\) ist, die alle \(b_i\) enthält.
Es existiert \(n\ge 0\) und ein surjektiver \(A\)-Algebren-Homomorphismus \(A[X_1,\dots , X_n]\to B\).
Sind \(b_1,\dots , b_n\) wie in (i), dann ist der Einsetzungshomomorphismus \(A[X_1,\dots , X_n]\to B\), der durch \(X_i\mapsto b_i\) gegeben ist, surjektiv. Ist \(\Phi \colon A[X_1,\dots , X_n]\to B\) surjektiv, so erfüllen die Elemente \(b_i:=\Phi (X_i)\) die Eigenschaft in (i).
Um den Zusammenhang zwischen ganzen und endlichen Ringhomomorphismen zu klären, benutzen wir die folgender Verallgemeinerung des Satzes von Cayley-Hamilton.
Sei \(R\) ein Ring.
Sei \(n\in \mathbb N\) und sei \(A\in M_n(R)\) eine \((n\times n)\)-Matrix mit Einträgen in \(R\). Sei \(\operatorname{charpol}_A = \det (TE_n-A)\in R[X]\) das charakteristische Polynom von \(A\). Dann gilt \(\operatorname{charpol}_A(A) = 0 \in M_n(R)\).
Sei \(M\) ein endlich erzeugter \(R\)-Modul, \(\mathfrak a\subseteq R\) ein Ideal, und \(\varphi \colon M\to M\) ein \(R\)-Endomorphismus von \(M\) mit \(\varphi (M) \subseteq \mathfrak aM\). Dann existieren Elemente \(a_i\in \mathfrak a\) mit
\[ \varphi ^n + a_{n-1}\varphi ^{n-1} + \cdots + a_0\operatorname{id}_M = 0\qquad \text{in} \operatorname{End}(M). \]
Zu (1). Wir beweisen die Aussage durch »Reduktion auf den universellen Fall«. Damit ist die folgende Beweisstrategie gemeint:
(I). Wir wissen bereits, dass die Aussage richtig ist, wenn \(R\) ein Körper ist (Satz LA2.16.21).
(II) Ist \(R\subseteq S\) ein Unterring und gilt die Aussage für \(S\), dann gilt sie auch für \(R\), denn wir können jede Matrix \(A\in M_n(R)\) als Matrix in \(M_n(S)\) auffassen, und den Satz auf \(A\) und \(S\) anwenden. Das charakteristische Polynom von \(A\) ist davon unabhängig, ob es über \(R\) oder über \(S\) berechnet wird. Mit (I) folgt, dass die Aussage für jeden Integritätsring \(R\) gilt, weil wir \(R\) als Unterring seines Quotientenkörpers \(\operatorname{Quot}(R)\) betrachten können.
(III) Ist \(\varphi \colon S\to R\) ein Ringhomomorphismus und ist \(\tilde{A}\in M_n(S)\), dann folgt die Aussage für \(R\) und die Matrix \(A\), die aus \(\tilde{A}\) entsteht, indem auf jeden Eintrag \(\varphi \) angewendet wird, aus der Aussage für \(S\) und \(\tilde{A}\). Denn in diesem Fall entsteht \(\operatorname{charpol}_A\) aus \(\operatorname{charpol}_{\tilde{A}}\), indem auf jeden Koeffizienten \(\varphi \) angewendet wird. Weil der Einsetzungshomomorphismus ein Ringhomomorphismus ist, folgt die Behauptung.
(IV) Der allgemeine Fall folgt nun aus (III): Sei \(R\) ein Ring und \(A=(a_{ij})_{i,j}\in M_n(R)\). Sei \(S:=\mathbb Z[X_{ij};\ i,j=1,\dots , n]\) der Polynomring über \(\mathbb Z\) in \(n^2\) Variablen und sei \(\varphi \colon S\to R\) der Einsetzungshomomorphismus mit \(X_{ij}\mapsto a_{ij}\). Weil \(S\) ein Integritätsring ist, gilt der Satz von Cayley-Hamilton nach (II) für jede \((n\times n)\)-Matrix in \(M_n(S)\), also insbesondere für die Matrix \((X_{ij})_{i,j}\). (Weil die Einträge dieser Matrix die Unbestimmten des Polynomrings sind, spricht man vom universellen Fall.) Nach (III) folgt die Aussage des Satzes für die Matrix \(A\in M_n(R)\).
Zu (2). Sei \(x_1,\dots , x_n\) ein Erzeugendensystem von \(M\). Wir können dann \(\varphi (x_j) = \sum _{i=1}^n a_{ij}x_i\) für Elemente \(a_{ij}\in \mathfrak a\) schreiben. Wir wenden Teil (1) an auf die Matrix \(A=(a_{ij})_{i,j}\in M_n(R)\). Es ist klar, dass die Koeffizienten von \(\operatorname{charpol}_A\) in \(\mathfrak a\) liegen. Aus \(\operatorname{charpol}_A(A) = 0\) folgt \(\operatorname{charpol}_A(\varphi )=0\) und damit die Behauptung.
Sei \(\varphi \colon A\to B\) ein Ringhomomorphismus, und sei \(b\in B\). Wir bezeichnen dann mit \(A[b]\) das Bild des Einsetzungshomomorphismus \(A[X]\to B\), \(X\mapsto b\), also die von \(b\) erzeugte \(A\)-Unteralgebra von \(B\). Die Elemente von \(A[b]\) sind die Ausdrücke \(\sum a_ib^i\) mit \(a_i\in A\) (oder genauer die Ausdrücke \(\sum \varphi (a_i)b^i\)), wobei wir wie immer nur endliche Summen betrachten.
Sei \(\varphi \colon A\to B\) ein Ringhomomorphismus, und sei \(b\in B\). Dann sind äquivalent:
Das Element \(b\) ist ganz über \(A\).
Die von \(b\) erzeugte \(A\)-Algebra \(A[b]\) ist als \(A\)-Modul endlich erzeugt, d.h. \(A\to A[b]\) ist ein endlicher Ringhomomorphismus.
Es existiert ein Unterring \(C\subseteq B\) mit \(b\in C\), so dass \(A\to C\) ein endlicher Ringhomomorphismus ist.
Wenn \(b\) ganz über \(A\) ist, etwa \(f(b)=0\) für \(f = X^n + a_{n-1}X^{n-1} +\cdots + a_0\), dann ist \(1, b, \dots , b^{n-1}\) ein Erzeugendensystem von \(A[b]\) als \(A\)-Algebra. Das zeigt die Implikation (i) \(\Rightarrow \) (ii), und (ii) \(\Rightarrow \) (iii) ist trivial.
Für die »schwierige« Implikation (iii) \(\Rightarrow \) (i) wenden wir Satz 4.4 an. Und zwar sei \(\xi \colon C\to C\) gegeben durch \(x\mapsto bx\). Dies ist ein \(A\)-Modul-Endomorphismus des endlich erzeugten \(A\)-Moduls \(C\), und folglich finden wir ein normiertes Polynom \(p\in A[X]\) mit \(p(\xi )=0\). Aber der Endomorphismus \(p(\xi )\) ist gegeben durch Multiplikation mit \(p(b)\), und weil insbesondere das Element \(1\in C\) unter \(p(\xi )\) auf \(0\) abgebildet wird, folgt \(p(b)=0\).
Seien \(\varphi \colon A\to B\), \(\psi \colon B\to C\) Ringhomomorphismen. Wenn \(\varphi \) und \(\psi \) endlich sind, so ist auch \(\psi \circ \varphi \) endlich.
Wenn \(b_1,\dots , b_m\in B\) den \(A\)-Modul \(B\) und \(c_1, \dots , c_n\in C\) den \(B\)-Modul \(C\) erzeugen, dann erzeugen die Elemente \(b_i c_j\) (\(i=1,\dots , m\), \(j=1,\dots , n\)) den \(A\)-Modul \(C\).
Damit erhalten wir als Folgerung aus dem Satz das Korollar, das ganz analog ist zu der Charakterisierung von endlichen Körpererweiterungen als endlich erzeugte algebraische Erweiterungen.
Sei \(\varphi \colon A\to B\) ein Ringhomomorphismus. Dann sind äquivalent:
Der Homomorphismus \(\varphi \) ist ganz und \(B\) ist als \(A\)-Algebra endlich erzeugt.
Die \(A\)-Algebra \(B\) wird von endlich vielen Elementen erzeugt, die über \(A\) ganz sind.
Der Homomorphismus \(\varphi \) ist endlich.
Die Implikation (i) \(\Rightarrow \) (ii) ist klar, und (ii) \(\Rightarrow \) (iii) folgt aus der Implikation (i) \(\Rightarrow \) (ii) in Satz 4.5 und Lemma 4.6. Gilt (iii), dann finden wir ein endliches Erzeugendensystem von \(B\) als \(A\)-Modul, also erst recht als \(A\)-Algebra. Aus Satz 4.5 folgt dann, dass (i) erfüllt ist.
Außerdem können wir nun auch begründen, dass sich die Eigenschaft ganz transitiv verhält.
Seien \(\varphi \colon A\to B\), \(\psi \colon B\to C\) Ringhomomorphismen. Wenn \(\varphi \) und \(\psi \) ganz sind, so ist auch \(\psi \circ \varphi \) ganz.
Seien \(\varphi \) und \(\psi \) ganz und sei \(c\in C\). Dann existiert ein normiertes Polynom in \(B[X]\), das \(c\) als Nullstelle hat. Die \(A\)-Unteralgebra \(B^\prime \) von \(B\), die von den Koeffizienten dieses Polynoms erzeugt wird, ist endlich erzeugt und ganz über \(A\), also ein endlicher \(A\)-Modul. Weil auch \(B^\prime [c]\) endlich über \(B^\prime \) ist, folgt, dass \(B^\prime [c]\) endlich über \(A\) ist. Also ist \(c\) ganz über \(A\).
Es ist zu zeigen, dass es sich bei \(C\) tatsächlich um einen Unterring handelt. Es ist klar, dass \(0,1\in C\) gilt. Sind \(c, c^\prime \in C\), dann ist \(A[c, c^\prime ]\) endlich über \(A\) (Korollar 4.7), also sind alle Elemente dieser \(A\)-Algebra ganz über \(A\), insbesondere \(c+c^\prime \), \(-c\), \(cc^\prime \).
Sei \(\varphi \colon A\to B\) ein injektiver Ringhomomorphismus. Dann heißt \(A\) ganzabgeschlossen in \(B\), wenn \(A\) mit dem ganzen Abschluss von \(A\) in \(B\) übereinstimmt, mit anderen Worten: wenn die einzigen Elemente von \(B\), die ganz über \(A\) sind, die Elemente von \(A\) sind.
Ein Integritätsring heißt ganzabgeschlossen, wenn er ganzabgeschlossen in seinem Quotientenkörper ist.
Der Ring \(\mathbb Z\) ist ganzabgeschlossen.
Allgemeiner gilt: Jeder faktorielle Ring ist ganzabgeschlossen. (Das ist nicht offensichtlich, aber auch nicht sehr schwierig. Die Umkehrung ist nicht richtig, was zu »interessanten Problemen« in algebraischer Geometrie und algebraischer Zahlentheorie führt.)
Sei \(K\) ein Körper. Die Teilmenge
\[ R = \left\{ \sum _i a_iX^i;\ a_1=0 \right\} \quad K[X] \]ist ein Unterring. Es gilt \(\operatorname{Quot}(R) = K(X)\).
Der Ring \(R\) ist nicht ganzabgeschlossen, denn zum Beispiel das Element \(X\) ist (warum?) ganz über \(R\), liegt aber nicht in \(R\).
Vergleiche Hausaufgabe 4, Ergänzung LA2.15.55, Beispiel ALG.3.41.
Seien \(\varphi \colon A\to B\) ein Ringhomomorphismus und \(C\subseteq B\) der ganze Abschluss von \(A\) in \(B\). Dann ist \(C\) ganzabgeschlossen in \(B\). Dies folgt aus Korollar 4.8.
Sei \(\varphi \colon A\to B\) ein endlicher (bzw. ganzer) Ringhomomorphismus.
Ist \(\mathfrak b\subseteq B\) ein Ideal, so ist auch der von \(\varphi \) induzierte Homomorphismus \(A/\varphi ^{-1}(\mathfrak b) \to B/\mathfrak b\) endlich (bzw. ganz).
Ist \(S\subseteq A\) eine multiplikative Teilmenge, so ist auch der von \(\varphi \) induzierte Homomorphismus \(S^{-1}A\to S^{-1}B\) endlich (bzw. ganz).
Ist \(C\) eine \(A\)-Algebra, so ist auch der von \(\varphi \) induzierte Homomorphismus \(C\to B\otimes _AC\) endlich (bzw. ganz).
Alle Behauptungen sind relativ leicht zu beweisen und wir lassen den Beweis hier aus.