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3.2 Exakte Sequenzen

Sei \(R\) ein Ring. Eine Sequenz von \(R\)-Moduln ist eine Familie \(M_i\), \(i\in \mathbb Z\), zusammen mit \(R\)-Modul-Homomorphismen

\begin{tikzcd} 
\cdots\ar[r] & M_0 \arrow{r}{f_0} & M_1 \arrow{r}{f_1} & M_2\arrow{r}{f_2} & \cdots
    \end{tikzcd}

(analog für »Intervalle« in \(\mathbb Z\) als Indexmengen).

Eine Sequenz heißt ein Komplex, falls \(f_{i+1}\circ f_i = 0\) für alle \(i\).

Eine Sequenz heißt exakt an der Stelle \(i\) (oder bei \(M_i\)), falls \(\operatorname{Im}f_{i-1} = \operatorname{Ker}f_{i}\) gilt. Sie heißt exakt, wenn sie an allen Stellen exakt ist. Eine Sequenz, deren Indexmenge ein Intervall in \(\mathbb Z\) ist, heißt exakt, wenn sie an allen Stellen exakt ist, bei denen sowohl eine Abbildung »ankommt« als auch eine Abbildung »beginnt«.

Beispiel 3.12
  1. Eine Sequenz

    \begin{tikzcd} 
0 \ar[r] & M^\prime \arrow{r}{f} & M
    \end{tikzcd}

    ist genau dann exakt (bei \(M^\prime \)), wenn \(f\) injektiv ist.

  2. Eine Sequenz

    \begin{tikzcd} 
    M \arrow{r}{f} & M^{\prime\prime} \ar[r] & 0
    \end{tikzcd}

    ist genau dann exakt (bei \(M^{\prime \prime }\)), wenn \(f\) surjektiv ist.

Definition 3.13

Eine exakte Sequenz der Form

\begin{tikzcd} 
    0 \ar[r] & M^\prime \arrow{r}{f} & M \arrow{r}{g} & M^{\prime\prime} \ar[r] & 0
    \end{tikzcd}

heißt kurze exakte Sequenz. Die Exaktheit ist dazu äquivalent, dass \(f\) injektiv, \(g\) surjektiv, und dass \(\operatorname{Ker}g = \operatorname{Im}f\) ist.

In der Situation der Definition induziert \(g\) einen Isomorphismus \(M^{\prime \prime } \cong M/M^\prime \) (wobei wir \(M^\prime \) vermöge der Injektion \(f\) als Untermodul von \(M\) auffassen). Ist andererseits \(N\subseteq M\) ein Untermodul, so geben die Einbettung von \(N\) nach \(M\) und die kanonische Projektion auf den Quotienten Anlass zu einer kurzen exakten Sequenz

\[ 0 \to N\to M \to M/N \to 0. \]

Satz 3.14
  1. Sei

    \begin{tikzcd} 
    M^\prime \arrow{r}{f} & M \arrow{r}{g} & M^{\prime\prime} \ar[r] & 0
    \end{tikzcd}

    eine Sequenz von \(R\)-Moduln. Dann gilt: Die Sequenz ist genau dann exakt (bei \(M\) und \(M^{\prime \prime }\)), wenn für alle \(R\)-Moduln \(N\) die Sequenz

    \[ 0\to \operatorname{Hom}_R(M^{\prime \prime }, N) \to \operatorname{Hom}_R(M, N) \to \operatorname{Hom}_R(M^\prime , N) \]

    (vergleiche Definition 3.11) exakt (an der zweiten und dritten Stelle) ist.

  2. Sei

    \begin{tikzcd} 
    0\ar[r] & M^\prime \arrow{r}{f} & M \arrow{r}{g} & M^{\prime\prime}
    \end{tikzcd}

    eine Sequenz von \(R\)-Moduln. Dann gilt: Die Sequenz ist genau dann exakt, wenn für alle \(R\)-Moduln \(N\) die Sequenz

    \[ 0\to \operatorname{Hom}_R(N, M^\prime )\to \operatorname{Hom}_R(N, M)\to \operatorname{Hom}_R(N, M^{\prime \prime }) \]

    (vergleiche Definition 3.11) exakt ist.

Beweis

Die Behauptungen sind alle nicht sehr schwer zu zeigen, und es ist sicherlich nützlicher und vermutlich auch einfacher, sich die Beweise selbst zu überlegen, als sie nachzuarbeiten. Daher folgen hier nur einige Hinweise.

Zu zeigen, dass die Sequenzen, die durch Anwenden des Hom-Funktors entstehen, exakt sind, ist einfach. Dass jeweils »\(\operatorname{Im}\subseteq \operatorname{Ker}\)« gilt, folgt unmittelbar daraus, dass der Hom-Funktor die Nullabbildung auf die Nullabbildung abbildet, denn diese Inklusion lässt sich umformulieren als die Aussage, dass die Verkettung der beiden Morphismen, die an diese Stelle aufeinanderstoßen, verschwindet. Die Exaktheit bei \(\operatorname{Hom}_R(M, N)\) in (1) folgt aus dem Homomorphiesatz.

Um zu zeigen, dass die Exaktheit der »Hom-Sequenz« für alle \(N\) die Exaktheit der Ursprungssequenz impliziert, braucht man in Teil (2) nur \(N=R\) einzusetzen. Denn für jeden \(R\)-Modul \(M\) lässt sich \(\operatorname{Hom}_R(R, M)\) mit \(M\) identifizieren. In Teil (1) setze man \(N=M^{\prime \prime }\) um zu sehen, dass \(g\circ f=0\) gelten muss, \(N=M^{\prime \prime }/\operatorname{Im}(g)\) um zu sehen, dass \(g\) surjektiv ist, und \(N=M/\operatorname{Im}(f)\) um zu zeigen, dass \(\operatorname{Ker}(g) = \operatorname{Im}(f)\) gilt.

Satz 3.15 Schlangenlemma

Sei \(R\) ein Ring und

\begin{tikzcd} 
    0 \ar[r] & M^\prime\arrow{r}{u}\arrow{d}{f^\prime} & M\arrow{r}{v}\arrow{d}{f} & M^{\prime\prime}\ar[r]\arrow{d}{f^{\prime\prime}} & 0 \\
    0 \ar[r] & N^\prime\arrow{r}{u^\prime}            & N\arrow{r}{v^\prime}         & N^{\prime\prime}\ar[r]             & 0 \\
    \end{tikzcd}

ein kommutatives Diagramm von \(R\)-Moduln, in dem die Zeilen exakte Sequenzen sind. Dann existiert eine exakte Sequenz

\begin{tikzcd} 
    0\ar[r]&\Ker f^\prime \arrow{r}{\overline{u}} & \Ker f\arrow{r}{\overline{v}} & \Ker f^{\prime\prime} \arrow{r}{d}& \phantom{.} \\
           & \Quo{N^\prime}{\im f^\prime} \arrow{r}{\overline{u^\prime}}& \Quo{N}{\im f} \ar[r] \arrow{r}{\overline{v^\prime}}& \Quo{N^{\prime\prime}}{\im f^{\prime\prime}} \ar[r] & 0,
    \end{tikzcd}

wobei \(\overline{u}\), \(\overline{v}\), \(\overline{u^\prime }\), \(\overline{v^\prime }\) die von \(u\), \(v\), \(u^\prime \), \(v^\prime \) induzierten Abbildungen sind.

Beweis

Es gilt wieder die Bemerkung zu Beginn des Beweises des vorherigen Satzes.

Der Knackpunkt ist die Konstruktion der Abbildung \(d\) (die man manchmal als Randabbildung, englisch boundary homomorphism, bezeichnet; diese Bezeichnung kommt aus der algebraischen Topologie, wir gehen hier nicht näher darauf ein). Dafür geht man folgendermaßen vor: Sei \(x\in \operatorname{Ker}(f^{\prime \prime })\). Insbesondere liegt \(x\) in \(M^{\prime \prime }\), es existiert mithin \(y\in M\) mit \(v(y)=x\). Dann gilt \(v^\prime (f(y)) = f^{\prime \prime }(v(y)) = f^{\prime \prime }(x)=0\), also liegt \(f(y)\) im Bild von \(u^\prime \), etwas \(u^\prime (z) = f(y)\). Wir definieren \(d(x)\) als das Bild von \(z\) unter der kanonischen Projektion \(N^\prime \to N^\prime /\operatorname{Im}(f^\prime )\).

Hier sind nun einige Sachen zu überprüfen:

  • Die Abbildung \(d\) ist wohldefiniert, d.h. \(d(x)\) hängt nicht von der Wahl von \(y\) ab.

  • Die Abbildung \(d\) ist ein \(R\)-Modul-Homomorphismus.

  • Die resultierende Sequenz von \(R\)-Moduln wie in der Aussage ist exakt.

Die Beweistechnik, sich »durch ein kommutatives Diagramm zu hangeln«, bezeichnet man auch als Diagrammjagd, englisch diagram chase. Siehe auch die Episode https://www.youtube.com/watch?v=etbcKWEKnvg aus dem Kinofilm It’s my turn (deutsch: Ich nenn’ es Liebe), in der Jill Clayburgh, die die Mathematik-Professorin Kate Gunzinger spielt, das Schlangenlemma beweist.

Für einen \(R\)-Modul-Homomorphismus \(f\colon M\to N\) heißt der Quotient \(N/\operatorname{Im}f\) auch der Kokern von \(f\) und wird mit \(\operatorname{Coker}f\) bezeichnet. (Dies ist tatsächlich der duale Begriff zum Begriff des Kerns, vergleiche Definition 3.37.)

Korollar 3.16 Fünferlemma

Wenn in der Situation des Schlangenlemmas zwei der drei Homomorphismen \(f^\prime \), \(f\), \(f^{\prime \prime }\) Isomorphismen sind, so auch der dritte.

Auf Englisch heißt das Fünferlemma five lemma.

Beweis

Ein \(R\)-Modul-Homomorphismus ist genau dann ein Isomorphismus, wenn sowohl sein Kern als auch sein Kokern verschwinden. Eine Sequenz \(0\to M\to 0\) ist genau dann exakt bei \(M\), wenn \(M=0\) gilt. Daher folgt die Aussage unmittelbar aus dem Schlangenlemma.