19.1 Euklidische Geometrie
Um die im weiteren Verlauf das Kapitels eingeführen Begriffe zu motivieren, betrachten wir zunächst einen speziellen Fall, den der euklidischen Geometrie auf dem Standardvektorraum \(\mathbb R^n\). Darunter wollen wir verstehen, dass wir zusätzlich zur Vektorraumstrukur noch die Begriffe vom Abstand zwischen zwei Punkten und vom Winkel zwischen zwei Vektoren einführen. Ein besonders wichtiger Spezialfall des Winkelbegriffs ist der rechte Winkel; dass zwei Vektoren einen rechten Winkel bilden, drücken wir auch aus, indem wir sagen, dass sie senkrecht oder orthogonal zueinander seien.
In diesem Abschnitt werden wir einige Sätze ohne Beweis angeben, weil die Beweise dann später in diesem Kapitel im allgemeinen Kontext durchgeführt werden. Siehe auch Kapitel LA1.11, insbesondere Abschnitt LA1.11.2.
Wir fixieren eine natürliche Zahl \(n\ge 1\). Fundamental ist in der (analytischen/euklidischen) Geometrie der Begriff des Abstands zwischen zwei Punkten. Motiviert durch den Satz des Pythagoras definieren wir diesen wie folgt.
Unter der Länge eines Vektors verstehen wir dann einfach seinen Abstand zum Ursprung. Oft spricht man statt von der Länge von der Norm des Vektors.
Die Norm hat die folgenden wichtigen Eigenschaften.
Die Norm \(\lVert \cdot \rVert \colon \mathbb R^n\to \mathbb R_{\ge 0}\) hat die folgenden Eigenschaften:
\(\lVert v\rVert = 0 \quad \Longleftrightarrow \quad v = 0\),
\(\lVert v+w \lVert \le \lVert v\rVert + \lVert w\rVert \),
\(\lVert av \rVert = \lvert a\rvert \, \lVert v\rVert \)
für \(v,w\in \mathbb R^n\) und \(a\in \mathbb R\).
Teile (1) und (3) sind dabei offensichtlich, Teil (2), der auch als Dreiecksungleichung bezeichnet wird, allerdings nicht; diese Aussage folgt aus der Ungleichung von Cauchy-Schwarz, siehe Satz 19.53.
Der Normbegriff ermöglicht es auch zu sagen, wann zwei Vektoren \(v,w\in \mathbb R^n\) als zueinander senkrecht betrachtet werden sollten – nämlich dann, wenn für das Dreieck mit den Eckpunkten \(0\), \(v\), \(w\) der Satz des Pythagoras
gilt. Dann ist es naheliegend, für beliebige Vektoren den folgenden Ausdruck zu betrachten, der sozusagen misst, wie weit die Vektoren davon entfernt sind, senkrecht zueinander zu sein.
Für das Skalarprodukt sind auch andere Schreibweisen gebräuchlich, unter anderem \((v,w)\) (diese Bezeichnung benutzen wir unten auch oft, wenn wir ein Skalarprodukt betrachten), \(vw\), \(\langle v, w\rangle \), \((v\mid w)\).
Sind \(v=(v_1,\dots , v_n)^t\), \(w=(w_1, \dots , w_n)^t\), so gilt, wie man leicht nachrechnet,
wobei wir für den Ausdruck in der Mitte \(v\) und \(w\) als \((n\times 1)\)-Matrizen verstehen und das Matrizenprodukt von \(v^t\) und \(w\) bilden. Diese Formel ist für konkrete Rechnungen (und auch für die meisten theoretischen Betrachtungen) praktischer als unsere Definition und wird daher meistens als Definition des Standard-Skalarprodukts verwendet. (Die Einfachheit dieser Formel ist auch der Grund für den Faktor \(\frac12\) in unserer Definition des Standard-Skalarprodukts.)
Die Definition, wann zwei Vektoren zueinander senkrecht genannt werden, können wir damit noch einmal umformulieren und in der üblichen Fassung angeben.
Es ist eine leichte Rechnung, dass das Standard-Skalarprodukt die folgenden Eigenschaften hat:
Das Skalarprodukt auf \(\mathbb R^n\) hat die folgenden Eigenschaften. Es seien \(v,w\in V\), \(a, a^\prime \in \mathbb R\).
(symmetrisch) \(v\cdot w = w\cdot v\)
(linear im ersten Eintrag) \((av+a^\prime v^\prime )\cdot w = a(v\cdot w) + a^\prime (v^\prime \cdot w)\),
(linear im zweiten Eintrag) \(v\cdot (aw+a^\prime w^\prime ) = a(v\cdot w) + a^\prime (v\cdot w^\prime )\).
(positiv definit) \(v\cdot v \ge 0\), und \(v\cdot v=0 \ \Leftrightarrow \ v=0\).
Wir fassen diese Eigenschaften zusammen, indem wir sagen, dass Standardskalarprodukt sei eine positiv definite symmetrische Bilinearform.
Wir können das Skalarprodukt auch benutzen, um den Winkel zwischen zwei Vektoren \(v,w\in \mathbb R^n\) zu definieren. Die Ungleichung von Cauchy-Schwarz, Satz 19.53, zeigt, dass
mit anderen Worten, dass
gilt. Der Winkel zwischen \(v\) und \(w\) ist die eindeutig bestimmte reelle Zahl \(\vartheta \in [0,\pi ]\), für die
ist.
Kurz zusammengefasst besteht der Inhalt dieses Kapitels darin,
beliebige positiv definite symmetrische Bilinearformen zu untersuchen; dabei beginnen wir mit beliebigen Bilinearformen (über beliebigen Grundkörpern) und spezialisieren uns dann nach und nach, und
die Theorie so zu erweitern, dass man eine ähnliche Theorie auch über dem Körper \(\mathbb C\) der komplexen Zahlen erhält; die Definition der Länge eines Vektors \(v=(v_1,\dots , v_n)\) als \(\sqrt{\sum _i v_i^2}\) kann man nicht nutzen, weil der Term unter der Quadratwurzel negativ sein könnte (und auch, wenn man in \(\mathbb C\) eine Quadratwurzel aus negativen reellen Zahlen hat, soll die Länge eines Vektors in \(\mathbb R_{\ge 0}\) liegen).
Einige andere Punkte, die wir unterwegs ansprechen werden, sind
abstandserhaltende Abbildungen (oder Isometrien),
Nullstellenmengen quadratischer Formen, Kegelschnitte, die Hauptachsentransformation.
Siehe auch die Einleitung zu Kapitel 7 in [ Bo ] , und [ Fi ] .