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A.5 Anwendungen der Galois-Theorie

A.5.1 Einheitswurzeln und zyklische Erweiterungen

Definition A.99

Sei \(K\) ein Körper. Sei \(n\in \mathbb N_{{\gt} 0}\).

  1. Ein Element \(\zeta \in K^\times \) heißt eine \(n\)-te Einheitswurzel, wenn \(\zeta ^n = 1\) gilt. Wir bezeichnen mit \(\mu _n(K)\) die Menge der \(n\)-ten Einheitswurzeln. Dies ist eine Untergruppe von \(K^\times \).

  2. Ein Element \(\zeta \in K^\times \) heißt primitive \(n\)-te Einheitswurzel, wenn \(\zeta \) als Element der Gruppe \(K^\times \) Ordnung \(n\) hat, wenn also \(\zeta ^n = 1\), aber \(\zeta ^m \ne 1\) für alle \(1\le m {\lt} n\) gilt. Wir bezeichnen mit \(\mu _n^{\text{prim}}(K)\) die Menge der primitiven \(n\)-ten Einheitswurzeln.

Wir nennen ein Element der multiplikativen Gruppe eines Körpers \(K\) eine Einheitswurzel, wenn es eine \(n\)-te Einheitswurzel für irgendein \(n\) ist, oder mit anderen Worten, wenn es endliche Ordnung in der Gruppe \(K^\times \) hat.

Die \(n\)-ten Einheitswurzeln in einem Körper \(K\) sind gerade die Nullstellen des Polynoms \(X^n -1\). Es gilt also \(\# \mu _n(K) \le n\), und Gleichheit gilt genau dann, wenn es eine primitive \(n\)-te Einheitswurzel gibt. In diesem Fall zerfällt das Polynom \(X^n-1\) in \(n\) verschiedene Linearfaktoren. Insbesondere kann es in einem Körper positiver Charakteristik \(p\) für \(p\, |\, n\) niemals eine primitive \(n\)-te Einheitswurzel geben (denn die Ableitung von \(X^n -1\) ist in dieser Situation gleich Null).

Die Gruppe \(\mu _n(K)\) ist zyklisch. Gibt es in \(K\) eine primitive \(n\)-te Einheitswurzel \(\zeta \), so ist die Abbildung

\[ \left.\mathbb Z\middle /n\right.\to \mu _n(K),\quad i\mapsto \zeta ^i, \]

ein Isomorphismus, der sich ein zu einer Bijektion zwischen \((\left.\mathbb Z\middle /n\right.)^\times \) und \(\mu _n^{\text{prim}}(K)\) einschränkt.

Es gilt \(\mu _n(\mathbb C) = \{ \exp (\frac{2k\pi i}{n});\ k=0,\dots , n-1\} \). Insbesondere ist \(\exp (\frac{2\pi i}{n})\) eine primitive \(n\)-te Einheitswurzel.

Satz A.100

Sei \(K\) ein Körper, \(\overline{K}\) ein algebraischer Abschluss von \(K\) und \(\zeta \in \overline{K}\) eine Einheitswurzel. Dann gilt: Die Erweiterung \(\left.K(\zeta )\middle /K\right.\) ist eine Galois-Erweiterung.

Sei in der Situation des Satzes \(\zeta \) eine primitive \(n\)-te Einheitswurzel in \(\overline{K}\). Wir betrachten die Abbildung \(\psi ^\prime \colon \operatorname{Gal}(K(\zeta )/K) \to \mu _n^{\text{prim}}\), \(\psi ^\prime (\sigma ) = \sigma (\zeta )\). Dies ist eine injektive Abbildung, und durch Verkettung mit der Bijektion \(\mu _n^{\text{prim}}(K(\zeta )) \cong (\left.\mathbb Z\middle /n\right.)^\times \) erhalten wir einen injektiven Gruppenhomomorphismus \(\psi \colon \operatorname{Gal}(K(\zeta )/K)\to (\left.\mathbb Z\middle /n\right.)^\times \).

Satz A.101

Sei \(K\) ein Körper, \(\overline{K}\) ein algebraischer Abschluss von \(K\) und \(\zeta \in \overline{K}\) eine primitive \(n\)-te Einheitswurzel. Dann gilt: Die Erweiterung \(\left.K(\zeta )\middle /K\right.\) ist eine abelsche Galois-Erweiterung. Die Galois-Gruppe ist isomorph zu einer Untergruppe von \((\left.\mathbb Z\middle /n\right.)^\times \).

Satz A.102

Sei \(K=\mathbb Q\) und \(\zeta \) eine primitive \(n\)-te Einheitswurzel (in einem algebraischen Abschluss von \(\mathbb Q\)). Dann gilt \([\mathbb Q(\zeta ) : \mathbb Q] = \# (\left.\mathbb Z\middle /n\right.)^\times \) und \(\operatorname{Gal}(\left.\mathbb Q(\zeta )\middle /\mathbb Q\right.) \cong (\left.\mathbb Z\middle /n\right.)^\times \).

Satz A.103

Seien \(n\in \mathbb N_{{\gt} 1}\) und \(K\) ein Körper, der eine primitive \(n\)-te Einheitswurzel enthält. Sei \(\left.L\middle /K\right.\) eine Körpererweiterung.

  1. Wenn \(L = K(\alpha )\) gilt für ein Element \(\alpha \in L\), das Nullstelle eines Polynoms der Form \(X^n - c\) mit \(c\in K\) ist, dann ist \(\left.L\middle /K\right.\) eine zyklische Galois-Erweiterung. Der Grad \(d:=[L:K]\) ist ein Teiler von \(n\), es gilt \(\alpha ^d\in K\) und \(X^d - \alpha ^d\) ist das Minimalpolynom von \(\alpha \) über \(K\).

  2. Wenn die Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) zyklisch vom Grad \(n\) ist, dann existiert \(\alpha \in L\), so dass \(L=K(\alpha )\) ist und das Minimalpolynom von \(\alpha \) über \(K\) die Form \(\operatorname{minpol}_{\alpha , K}=X^n - c\) für ein \(c\in K\) hat.

A.5.2 Auflösbarkeit von Gleichungen durch Radikale

Um die Diskussion etwas zu vereinfachen, betrachten wir in diesem Abschnitt nur Körper der Charakteristik \(0\). Um die Ergebnisse in der »richtigen« Art und Weise auf Körper positiver Charakteristik zu übertragen, ist zu berücksichtigen, dass es über diesen im Allgemeinen auch zyklische Erweiterungen gibt, für die kein primitives Element mit Minimalpolynom der Form \(X^n - c\) existiert (vergleiche Satz A.103, der diese Fälle nicht abdeckt, weil es niemals eine primitive \(n\)-te Einheitswurzel gibt, wenn \(n\) ein Vielfaches der Charakteristik ist).

Definition A.104

Sei \(\left.L\middle /K\right.\) eine endliche Körpererweiterung.

  1. Wir sagen, die Körpererweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) sei auflösbar durch Radikale, wenn eine Kette

    \[ K= K_0 \subset K_1\subset \cdots \subset K_r \]

    endlicher Körpererweiterungen mit \(L\subseteq K_r\) existiert, so dass jede der Erweiterungen \(\left.K_{i+1}\middle /K_i\right.\) von einer der folgenden Formen ist:

    • \(K_{i+1}\) entsteht aus \(K_i\) durch Adjunktion einer Einheitswurzel,

    • \(K_{i+1} = K_i(\alpha )\) für ein Element \(\alpha \) aus \(K_{i+1}\), so dass eine positive Potenz von \(\alpha \) in \(K_i\) liegt.

  2. Wir sagen, die Körpererweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) sei auflösbar, wenn ein Erweiterungskörper \(E\) von \(L\) existiert, so dass \(\left.E\middle /K\right.\) eine Galois-Erweiterung mit auflösbarer Galois-Gruppe ist.

  3. Ist \(f\in K[X]\), so sagen wir die Gleichung \(f(x)=0\) (oder: das Polynom \(f\)) sei auflösbar durch Radikale bzw. auflösbar, wenn der Zerfüllungskörper von \(f\) die entsprechende Eigenschaft hat.

Lemma A.105
  1. Eine Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) ist genau dann auflösbar durch Radikale, wenn die normale Hülle von \(L\) über \(K\) diese Eigenschaft hat.

  2. Eine Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) ist genau dann auflösbar, wenn die normale Hülle von \(L\) über \(K\) eine Galois-Erweiterung mit auflösbarer Galois-Gruppe ist.

  3. Die Eigenschaften auflösbar durch Radikale und auflösbar verhalten sich transitiv in einem Turm \(K\subset L\subset M\) von Körpererweiterungen.

Satz A.106

Eine Körpererweiterung ist genau dann auflösbar durch Radikale, wenn sie auflösbar ist.

Korollar A.107

Es gibt Gleichungen (zum Beispiel vom Grad \(5\) über \(\mathbb Q\)), die nicht durch Radikale auflösbar sind.

Korollar A.108

Jede Gleichung vom Grad \(\le 4\) ist durch Radikale auflösbar.

A.5.3 Konstruierbarkeit mit Zirkel und Lineal

Definition A.109

Die Teilmenge \(\mathbb K\subseteq \mathbb C\) der (mit Zirkel und Lineal) konstruierbaren komplexen Zahlen ist die kleinste Teilmenge von \(\mathbb C\), die die folgenden Eigenschaften hat:

  1. \(0, 1\in \mathbb K\),

  2. für je zwei unterschiedliche Geraden, die durch (mindestens) zwei Punkte von \(\mathbb K\) gehen, liegt auch deren Schnittpunkt in \(\mathbb K\),

  3. für jede Gerade, die durch (mindestens) zwei Punkte von \(\mathbb K\) geht, und jeden Kreis, dessen Mittelpunkt in \(\mathbb K\) liegt, und so dass der Radius gleich dem Abstand zweier Punkte in \(\mathbb K\) ist, liegen auch die Schnittpunkte der Geraden und des Kreises in \(\mathbb K\),

  4. für je zwei unterschiedliche Kreise, deren Mittelpunkte in \(\mathbb K\) liegen, und so dass die Radien jeweils gleich dem Abstand zweier Punkte in \(\mathbb K\) sind, liegen auch die Schnittpunkte der Kreise in \(\mathbb K\).

Satz A.110
  1. Die Menge \(\mathbb K\) ist ein Teilkörper des Körpers der komplexen Zahlen.

  2. Die Erweiterung \(\left.\mathbb K\middle /\mathbb Q\right.\) ist algebraisch.

  3. Für alle \(\alpha \in \mathbb K\) gilt \(\pm \sqrt{\alpha }\in \mathbb K\).

Satz A.111

Für \(\alpha \in \mathbb C\) sind äquivalent:

  1. Es gilt \(\alpha \in \mathbb K\), d.h. \(\alpha \) ist ausgehend von \(0\) und \(1\) konstruierbar mit Zirkel und Lineal.

  2. Es gibt eine endliche Kette

    \[ \mathbb Q= K_0 \subset K_1\subset \cdots \subset K_r \]

    von Körpererweiterungen, so dass \([K_i : K_{i-1}] = 2\) für alle \(i=1, \dots , r\) gilt und \(\alpha \in K_r\) ist.

  3. Es gibt eine Galois-Erweiterung \(\left.K\middle /\mathbb Q\right.\) mit \(\alpha \in K\), deren Grad eine Potenz von \(2\) ist.

Korollar A.112
  1. Es gilt \(\sqrt[3]{2}\not\in \mathbb K\), d.h. die »Verdoppelung des Würfels« ist nicht möglich.

  2. Aus dem Satz von Lindemann, dass \(\pi \) transzendent über \(\mathbb Q\) ist, folgt, dass \(\pi \not\in \mathbb K\) gilt, also dass die »Quadratur des Kreises« nicht möglich ist.

Theorem A.113

Sei \(n\ge 3\) eine natürliche Zahl. Dann sind äquivalent:

  1. Das regelmäßige \(n\)-Eck ist konstruierbar mit Zirkel und Lineal (d.h. \(\exp (\frac{2\pi i}{n})\in \mathbb K\)).

  2. Die Zahl \(\varphi (n)\) ist eine Potenz von \(2\) (wobei \(\varphi \) die Eulersche \(\varphi \)-Funktion bezeichnet, d.h. \(\varphi (n)\) ist die Anzahl der zu \(n\) teilerfremden Zahlen zwischen \(1\) und \(n-1\)).

Definition A.114

Eine Primzahl der Form \(2^k+1\) heißt Fermatsche Primzahl. Es ist dann notwendigerweise \(k\) selbst eine Potenz von \(2\). Wir schreiben \(F_r = 2^{2^r}+1\).

Korollar A.115

Sei \(n\ge 3\) eine natürliche Zahl. Dann sind äquivalent:

  1. Das regelmäßige \(n\)-Eck ist konstruierbar mit Zirkel und Lineal (d.h. \(\exp (\frac{2\pi i}{n})\in \mathbb K\)).

  2. Die Zahl \(n\) hat die Form \(2^r p_1\cdot \cdots p_l\) mit \(r,l\ge 0\) und mit paarweise verschiedenen Fermatschen Primzahlen \(p_i\).

A.5.4 Das quadratische Reziprozitätsgesetz

Satz A.116

Sei \(p {\gt} 2\) eine Primzahl und sei \(\zeta _p\in \overline{\mathbb Q}\) eine primitive \(p\)-te Einheitswurzel. Die Körpererweiterung \(\left.\mathbb Q(\zeta _p)\middle /\mathbb Q\right.\) besitzt einen eindeutig bestimmten Zwischenkörper \(E\) mit \([E:\mathbb Q]=2\), und zwar ist dies der Körper \(\mathbb Q(\sqrt{p^\ast })\) mit

\[ p^\ast = \begin{cases} p & \text{wenn}\ p\equiv 1\mod 4,\\ -p & \text{wenn}\ p\equiv 3\mod 4. \end{cases} \]

Lemma A.117

Sei \(p\) eine ungerade Primzahl. Ein Element \(x\in \mathbb F_p^\times \) ist genau dann ein Quadrat in \(\mathbb F_p^\times \), wenn \(x^{\frac{p-1}{2}} = 1\) gilt.

Dieses Lemma motiviert die folgende Definition.

Definition A.118

Sei \(p\) eine ungerade Primzahl und \(x\in \mathbb F_p^\times \). Wir definieren das Legendre-Symbol durch

\[ \left( \frac xp \right) = \begin{cases} 1 & \text{wenn}\ x\in (\mathbb F_p^\times )^2,\\ -1 & \text{wenn}\ x\in \mathbb F_p^\times \setminus (\mathbb F_p^\times )^2.\\ \end{cases} \]

(Der Wert des Legendre-Symbols soll per Definition in \(\mathbb Z\) liegen, d.h. \(1\) und \(-1\) werden hier als ganze Zahlen, nicht als Elemente eines endlichen Körpers, betrachtet.)

Für ganze Zahlen \(x\), die zu \(p\) teilerfremd sind, definieren wir das Legendre-Symbol, indem wir die obigen Definition auf die Restklasse von \(x\) in \(\mathbb F_p\) anwenden.

Theorem A.119 Quadratisches Reziprozitätsgesetz

Seien \(p\ne q\) ungerade Primzahlen. Dann gilt

\[ \left( \frac pq \right) = (-1)^{\frac{p-1}{2}\frac{q-1}{2}} \left( \frac qp \right) \]

Theorem A.120 Ergänzungssätze zum quadratischen Reziprozitätsgesetz

Sei \(p\) eine ungerade Primzahl. Dann gilt

  1. \(\left( \frac{-1}{p} \right) = (-1)^{\frac{p-1}{2}}\),

  2. \(\left( \frac2q \right) = (-1)^{\frac{p^2-1}{8}}\).