1.1 Inhalt der Vorlesung
Die Vorlesung Algebra besteht aus meiner Sicht im wesentlichen aus
der Untersuchung von Körpern und sogenannten Körpererweiterungen; im Fokus steht dabei die Frage, wann ein Polynom in einer Unbestimmten mit Koeffizienten in einem Körper \(K\) in \(K\) oder einem Erweiterungskörper von \(K\) eine Nullstelle hat (oder sogar vollständig in Linearfaktoren zerfällt) und
zu diesem Zweck einem (im Vergleich zur Linearen Algebra) systematischeren Studium des Begriffs der Gruppe, das wir an den Anfang der Vorlesung stellen.
Ein Erweiterungskörper eines Körpers \(K\) ist ein Körper \(L\), derart dass \(K\) ein Teilkörper von \(L\) ist, d.h. es gilt \(K\subseteq L\) und die Addition und Multiplikation auf \(K\) sind durch Einschränkung der entsprechenden Verknüpfungen auf \(L\) gegeben. Wir nennen das Paar \(K\subseteq L\) dann auch eine Körpererweiterung und schreiben oft \(\left.L\middle /K\right.\).
Neben den konkreten Sätzen (siehe unten) ist ein wichtiges Lernziel der Vorlesung der Umgang mit »abstrakten mathematischen Strukturen«. An mehreren Stellen ist der Abstraktionsgrad höher als in der Linearen Algebra, das bedeutet, dass es schwieriger ist, ein »Gefühl« für die entsprechenden Begriffe zu entwickeln, damit man wirklich mit ihnen umgehen kann. Zusätzlich ist es so, dass der Stoff der Algebra-Vorlesung (wie bei fast allen Mathematik-Vorlesungen, und ähnlich wie in anderen Fächern) über ungefähr 200 Jahre hin immer weiter optimiert und in eine stromlinienförmige Gestalt gebracht wurde. Das hat den Vorteil, dass man in der zur Verfügung stehenden Zeit zu mehreren wichtigen und teilweise (mathematisch gesehen) spektakulären Ergebnissen kommen kann, deren Beweise alles andere als offensichtlich sind, aus vielen Schritten bestehen und in teils überraschender Art verschiedene Konzepte zusammenbringen. Der Nachteil liegt allerdings auch auf der Hand: Es ist nicht von vorneherein offensichtlich, welche Bedeutung einige Ergebnisse aus der ersten Vorlesungshälfte später haben werden und warum dieser oder jener Begriff überhaupt eingeführt wird (auch wenn ich mir Mühe geben werde, das jeweils an Ort und Stelle zu motivieren).
Außerdem spiegelt so eine Vorlesung nicht wider, wie sich eine mathematische Theorie entwickelt. Das könnte man mit einer Stadtführung vergleichen, wo typischerweise nur die schönen und besonders sehenswerten Ecken gezeigt werden, aber nicht die Sackgassen mit den heruntergekommenen Häusern…
Mathematik ist kein vorsichtiger Gang auf einer gut geräumten Straße, sondern eine Reise in eine fremde Wildnis, in der sich die Entdecker oft verlaufen.
W.S. Anglin
Dennoch ist es, um Mathematik zu lernen, wichtig, auf eigene Faust auch einmal Sackgassen und Irrwege kennenzulernen, Fehler zu machen, eigene Beweise zu finden (auch wenn sie im Nachhinein betrachtet vielleicht unnötig umständlich sind), usw. Auch das muss und wird in der Veranstaltung abgedeckt werden, und zwar – Sie ahnen es wahrscheinlich – durch die Bearbeitung der Hausaufgaben und den Besuch der Übungsgruppen.
Damit, dass die Ergebnisse tiefliegender sind als in den Anfängervorlesungen, geht einher, dass sie weiter entfernt sind von konkreten Anwendungen. Während Methoden der Linearen Algebra »überall« benötigt werden, ist beispielsweise die Tatsache, dass das regelmäßige \(17\)-Eck mit Zirkel und Lineal konstruierbar ist, nicht jedoch das regelmäßige \(7\)-Eck, zwar die Lösung eines mathematischen Problems, das die Mathematik seit über 2000 Jahren beschäftigt hat, und auch insofern interessant, als der Lösungsweg unerwartet und trotz seiner Komplexität auch extrem elegant ist. Für die Praxis hat diese Sache aber keinerlei Bedeutung. Es gibt zwar durchaus Anwendungen, die auf den Ergebnissen der Algebra bzw. auf darauf aufbauenden Theorien beruhen (die Kryptographie mit elliptischen Kurven ist ein häufig genanntes Beispiel, auch in der Kodierungstheorie spielt die Theorie der (endlichen) Körper eine Rolle), aber diese benötigen dann oft noch deutlich mehr Theorie (zum Beispiel die algebraische Geometrie). Daher beschäftigen sich auch die Ergänzungen im Skript größtenteils mit innermathematischen Themen und Ausblicken.
Es kann nicht geleugnet werden, daß ein großer Teil der elementaren Mathematik von erheblichem praktischen Nutzen ist. Aber diese Teile der Mathematik sind, insgesamt betrachtet, ziemlich langweilig. Dies sind genau diejenigen Teile der Mathematik, die den geringsten ästhetischen Wert haben. Die »echte« Mathematik der »echten« Mathematiker, die Mathematik von Fermat, Gauß, Abel und Riemann ist fast völlig »nutzlos«.
G. H. Hardy 1
Alle Pädagogen sind sich darin einig: Man muß vor allem tüchtig Mathematik treiben, weil ihre Kenntnis fürs praktische Leben größten direkten Nutzen gewährt.
Felix Klein
Das soll aber nicht heißen, dass die Themen dieser Vorlesung nicht interessant wären – im Gegenteil ist aus meiner Sicht die Algebra eine der schönsten Vorlesungen des Mathematikstudiums, weil, wie schon angedeutet, die Lösungen mehrerer Probleme erklärt werden können, die über Jahrhunderte Mathematiker∗innen fasziniert haben und die mit der Theorie der Galois-Erweiterungen sehr durchsichtig dargestellt werden können. Die Kraft der mathematischen Abstraktion kommt hier noch weitaus stärker zum Tragen als in der Linearen Algebra (oder den Anfängervorlesungen der Analysis), wo die allermeisten Begriffe und Ergebnisse (auch) einen konkreten, »rechnerischen« Zugang erlauben.