Inhalt

16.2 Das Minimalpolynom

Neben dem charakteristischen Polynom ordnet man jeder Matrix (bzw. jedem Endomorphismus) ein weiteres Polynom zu, das sogenannte Minimalpolynom. Wie wir sehen werden, enthalten diese beiden Polynome wesentliche Informationen über die zugrundeliegende Matrix, und insbesondere über ihre Eigenwerte und Eigenräume. Zum Beispiel werden wir am Ende dieses Kapitels beweisen, dass eine Matrix genau dann diagonalisierbar ist, wenn ihr Minimalpolynom vollständig in Linearfaktoren zerfällt und nur einfache Nullstellen hat.

Sei \(K\) ein Körper und sei \(n\in \mathbb N\). Sei \(A\in M_{n}(K)\), und sei \(\Phi \colon K[X]\rightarrow M_{n\times n}(K)\) der Ringhomomorphismus mit \(\Phi (a) = aE_n\) für alle \(a\in K\) und \(\Phi (X) = A\) (eine Instanz des Einsetzungshomomorphismus, Satz 15.24), . Wir schreiben \(K[A]\) für das Bild von \(\Phi \) – dies ist ein kommutativer Unterring von \(M_{n}(K)\), der \(K\) enthält (und auch ein \(K\)-Vektorraum ist).

Weil \(\Phi \) insbesondere ein Homomorphismus von \(K\)-Vektorräumen ist, der Vektorraum \(K[X]\) nicht endlichdimensional, der Zielraum \(M_n(K)\) jedoch endlichdimensional ist, kann \(\Phi \) nicht injektiv sein. Der Kern von \(\Phi \) ist also nicht das Nullideal. Es handelt sich um ein Hauptideal in \(K[X]\), etwa \(\operatorname{Ker}(\Phi ) = (p)\), \(p\ne 0\). Das Ideal \((p)\) ändert sich nicht, wenn wir \(p\) mit einem Element aus \(K^\times \) multiplizieren. Daher ist die folgende Definition sinnvoll.

Definition 16.11

Sei wie oben \(A\in M_n(K)\) und \(\Phi \colon K[X]\to M_n(K)\), \(X\mapsto A\). Das Minimalpolynom \(\operatorname{minpol}_A\) von \(A\) ist das eindeutig bestimmte normierte Polynom \(p\in K[X]\) mit \(\operatorname{Ker}\Phi = (p)\).

Etwas konkreter können wir das so formulieren: Für \(p:=\operatorname{minpol}_A\) gilt \(p(A) = 0\), und alle Polynome \(q\in K[X]\) mit \(q(A) = 0\) werden von \(p\) geteilt. Insbesondere haben alle \(q\in K[X]\setminus \{ 0\} \) mit \(q(A)\) Grad \(\deg (q) \ge \deg \operatorname{minpol}_A\). Wir können also äquivalent sagen: Das Minimalpolynom \(\operatorname{minpol}_A\) von \(A\) ist das eindeutig bestimmte normierte Polynom \(p\) kleinsten Grades, so dass \(p(A)=0\) gilt.

Wie üblich können wir eine analoge Definition für Endomorphismen endlichdimensionaler \(K\)-Vektorräume machen.

Definition 16.12

Seien \(K\) ein Körper, \(V\) ein endlichdimensionaler Vektorraum über \(K\) und \(f\in \operatorname{End}_K(V)\). Sei \(\Phi \colon K[X]\to \operatorname{End}_K(V)\) der Einsetzungshomomorphismus mit \(X\mapsto f\).

Das eindeutig bestimmte normierte Polynom \(p\), das das Ideal \(\operatorname{Ker}(\Phi )\) erzeugt, heißt das Minimalpolynom des Endomorphismus \(f\).

Die konkrete(re) Beschreibung für das Minimalpolynom einer Matrix lässt sich natürlich auf den Fall von Endomorphismen übertragen.

Beispiel 16.13

Sei \(K\) ein Körper, \(n\in \mathbb N\).

Ist \(A= \operatorname{diag}(a_1, \dots , a_n)\) eine Diagonalmatrix, so gilt für jedes Polynom \(f\in K[X]\), dass \(f(A) = \operatorname{diag}(f(a_1), \dots , f(a_n))\). Schreiben wir \(\{ a_1, \dots , a_n\} = \{ \lambda _1,\dots , \lambda _r\} \) mit paarweise verschiedenen \(\lambda _1, \dots , \lambda _r\) (\(r\le n\)), so gilt

\[ \operatorname{minpol}_A = \prod _{i=1}^r (X-\lambda _i), \]

denn es ist nach der obigen Bemerkung klar, dass dieses Polynom die Matrix \(A\) annulliert, aber keiner seiner echten Teiler diese Eigenschaft hat.

Ist speziell \(A = aE_n\) ein Vielfaches der Einheitsmatrix, \(a\in K^\times \), so gilt \(\operatorname{minpol}_A = X-a\). Das Minimalpolynom der Nullmatrix ist das Polynom \(X\).

Anhand dieser Beispiele sieht man, dass jedenfalls alle Zahlen zwischen \(1\) und \(n\) als Grad des Minimalpolynoms auftreten können. Weil \(\dim _K(M_n(K)) = n^2\) ist, ist nicht schwer zu sehen, dass der Grad des Minimalpolynoms höchstens \(n^2\) sein kann. Wir werden später (als Folgerung des Satzes von Cayley–Hamilton) zeigen, dass aber sogar immer \(\deg (\operatorname{minpol}_A)\le n\) gilt.

Die Begriffe des Minimalpolynoms für Matrizen und Endomorphismen sind in der offensichtlichen Art und Weise miteinander kompatibel. Das geht damit einher, dass zueinander konjugierte Matrizen dasselbe Minimalpolynom haben. Diese beiden Tatsachen halten wir im folgenden Lemma fest.

Lemma 16.14

Sei \(K\) ein Körper.

  1. Sei \(V\) ein endlichdimensionaler \(K\)-Vektorraum, \(n = \dim V\) und sei \(\mathscr B\) eine Basis von \(V\). Ist \(f\) ein Endomorphismus von \(V\), so gilt

    \[ \operatorname{minpol}_f = \operatorname{minpol}_{M^\mathscr B_\mathscr B(f)}\quad \in K[X]. \]
  2. Seien \(n\in \mathbb N\), \(A\in M_n(K)\), \(S\in GL_n(K)\). Dann haben \(A\) und \(SAS^{-1}\) dasselbe Minimalpolynom.

Beweis

zu (1). Es genügt zu zeigen, dass für ein Polynom \(p\in K[X]\) genau dann \(p(f)=0\) gilt, wenn \(p(M^\mathscr B_\mathscr B(f)) = 0\) ist. Das folgt direkt daraus, dass die Abbildung \(M^\mathscr B_\mathscr B(-)\colon \operatorname{End}_K(V)\to M_n(K)\), \(g\mapsto M^\mathscr B_\mathscr B(g)\), ein Ringisomorphismus ist.

Wir können die Situation in dem folgenden »kommutativen Diagramm« veranschaulichen (»kommutativ« heißt hier, dass die Verkettung \(\Phi _A\circ M^\mathscr B_\mathscr B(-)\) mit \(\Phi _f\) übereinstimmt).

\begin{tikzcd} 
        & K[X] \ar{ld}{}[swap]{\Phi_f}\ar{rd}{\Phi_A}\\
        \End_K(V) \ar{rr}{M^\Bscr_\Bscr(-)}  & & M_n(K)
    \end{tikzcd}

Hier bezeichnet \(\Phi _f\) den Einsetzungshomomorphismus, der durch \(X\mapsto f\) bestimmt ist, und \(\Phi _A\) denjenigen mit \(X\mapsto A\).

Um Teil (2) zu beweisen, kann man Teil (1) anwenden (denn \(A\) und \(SAS^{-1}\) sind darstellende Matrizen des Endomorphismus \(\mathbf f_A\colon K^n\to K^n\) bezüglich unterschiedlicher Basen). Alternativ kann man ein analoges Argument für den Ringisomorphismus \(M_n(K)\to M_n(K)\), \(B\mapsto SBS^{-1}\), durchführen. Dass diese Abbildung ein Ringisomorphismus ist, impliziert, dass \(p(SAS^{-1}) = Sp(A)S^{-1}\) für jedes \(p\in K[X]\) gilt. Insbesondere sind die Aussagen \(p(A) = 0\) und \(p(SAS^{-1})=0\) für jedes \(p\) äquivalent.