Berufsbezug des Mathematikstudiums

Regelmäßig wird in den Umfragen zu den (Anfänger-)Vorlesungen ein größerer Berufsbezug gewünscht. In der Vorlesungsumfrage zur Linearen Algebra 1 (WS 2020/21) wurde die Frage “Ein Bezug zwischen Veranstaltungsinhalten und Berufsfeld bzw. Anwendung wird hergestellt.” mit der Durchschnittsnote 3,3 bewertet. Ich kann gut verstehen, dass man schon (und vielleicht besonders) in den ersten Semestern darauf schaut, wohin die Reise beruflich nach dem Abschluss des Studiums gehen kann und ob das Mathematikstudium überhaupt eine gute Vorbereitung auf eine Berufstätigkeit ist. Zum Teil wird hier sicher auch eine zusätzliche Unsicherheit “von außen” erzeugt, weil es so schwierig ist, die Inhalte des Studiums Nicht-Mathematiker*innen zu erklären.

Den konkreten Berufsbezug herzustellen, ist aus mehreren Gründen schwierig (Und aus meiner Sicht ist das auch nicht die Aufgabe eines Universitätsstudiums.)

  • Natürlich gibt es nur wenige Berufe, in denen man die Determinante oder die Eigenwerte einer Matrix ausrechnen muss (oder überhaupt wissen muss, was das ist). Das macht es auch schwierig, von den mathematischen Inhalten einen ganz konkreten Berufsbezug herzustellen.

  • Es gibt sehr viele und sehr verschiedene Berufe, die man als Mathematiker*in ergreifen kann. Zuerst einmal gibt es natürlich den Unterschied zwischen Lehramtsstudium und Fachstudiengang. Aber auch wenn man sich auf Absolventen mit Bachelor-/Master-Abschluss einschränkt: Mit Mathematik kann man wirklich alles mögliche machen (siehe unten für einige Beispiele).

Darum kann ich den Berufsbezug auch in einem Blogpost nicht mal eben im Vorübergehen herstellen. Der Sinn dieses Artikels ist vielmehr, zu begründen, dass das Mathematikstudium in hervorragender Weise auf das Berufsleben vorbereitet und ausgezeichnete und sehr vielseitige berufliche Perspektiven eröffnet.

Denn im Mathematikstudium werden viele Fertigkeiten eingeübt, die in jedem Beruf nützlich und wichtig sind - in den Vorlesungen, den Seminaren, dem Verfassen der Abschlussarbeiten … Zum Beispiel:

  • Schwierige Probleme systematisch zu analysieren, kreative Lösungen (unter genau definierten Rahmenbedingungen) zu finden und Lösungen auf ihre Korrektheit zu überprüfen.

  • Komplexe Sachverhalte korrekt und sehr präzise darzustellen, sowohl schriftlich als auch im Einzelgespräch und in Vorträgen vor einer Gruppe

  • Fragen zu stellen

  • Sich in neue Theorien selbständig einzuarbeiten

  • Durchhaltevermögen

  • (meistens) Englischkenntnisse - jedenfalls ist es häufig erforderlich, mathematische Texte auf Englisch zu lesen; je nach weiterer Spezialisierung hat man im Masterstudium vielleicht auch die Gelegenheit, selbst Vorträge auf Englisch zu halten,

Je nach Spezialisierung werden auch Kompetenzen erworben, die eine “konkretere” fachliche Natur haben (aber: diese Sachen kann man sich sonst auch nachträglich noch aneignen) - zum Beispiel:

  • Programmieren

  • das Arbeiten mit Softwarepaketen aus Bereichen wie Numerik, Optimierung, Statistik

  • Methoden der Finanz-/Versicherungsmathematik

Gerade bei der ersten Liste kann man sicherlich die Frage stellen, ob es nicht möglich ist, sich diese Fähigkeiten auf direkterem Wege als durch ein Mathematikstudium anzueignen - vermutlich schon, auch wenn ich keine direkte Empfehlung auf Lager habe. Sicher gilt aber: Ein Mathematikstudium empfehle ich nur der/demjenigen, die sich für die mathematischen Inhalte interessiert. Dieses Interesse muss sich nicht auf die gesamte Mathematik beziehen, und natürlich sind auch einmal “Durststrecken” erlaubt, in denen sich das Studium etwas zäher anfühlt. Wenn die Motivation “für die Mathematik” aber grundsätzlich vorhanden ist, dann ist das Mathematikstudium eine wunderbare Gelegenheit, gleichzeitig diesem Interesse nachzugehen und sich im Vorübergehen in Hinsicht auf die genannten Punkte weiterzuentwickeln.

Um noch ein paar fassbare Belege anzufügen, was aus einem Mathematikstudium werden kann, habe ich hier einige Links zu Unternehmen gesammelt, wo frühere Studierende von mir oder Bekannte aus meinem eigenen Studium arbeiten oder einmal gearbeitet haben.

Freie Wirtschaft

Beratung

Im Bereich Unternehmensberatung (der auch selbst wieder vielfältig ist, zum Beispiel gibt es Spezialisierungen nach Branchen, aber auch Unterschiede, ob es mehr um allgemeine Unternehmensstrukturen, die konkrete Umsetzung von IT-Projekten, … geht) werden Mathematiker*innen gerne eingestellt.

d-fine, Deloitte, tecRacer, Accenture

IT

Der Sektor IT/Computer ist eine andere Möglichkeit, als Mathematiker*in zu arbeiten. Da heutzutage jedes Unternehmen auf den Einsatz von Computern angewiesen ist und immer mehr “vernetzt” wird, ist auch hier das Spektrum sehr breit. Einige Beispiele:

Gesundheitssektor (Genedata), Künstliche Intelligenz, (Comma Soft), Security (VMRay), Geo-Informationssysteme (GIS) (Thüga Erneuerbare Energien GmbH & Co. KG), Raumfahrt (SCIYSY Deutschland GmbH/CGI)

Versicherungen

Versicherungen sind seit jeher ein “Standard-Arbeitgeber” für Mathematiker*innen, und bieten ungeachtet eventueller Vorurteile interessante Tätigkeiten, die zum Teil auch mathematisch anspruchsvoll ist. In der Regel kann man dort die Weiterbildung zur Aktuar*in machen (und lohnt es sich, das zu tun).

Allianz, AXA, ERGO, Talanx

Öffentlicher Dienst

Im Bereich des öffentlichen Diensts bieten zum Beispiel die BaFin und die Kultus-/Wissenschaftsministerien von Bund und Ländern Arbeitsmöglichkeiten für Mathematiker*innen.

Schule

Der Bereich Schule ist natürlich anders gelagert, auch wenn die meisten der oben genannten Kompetenzen auch hier wichtig sind - insbesondere das präzise Formulieren und die Fähigkeit, zuverlässig richtig und falsch unterscheiden zu können (und sich sicher zu sein, dass man sich auf das eigene Urteilsvermögen verlassen kann).

Insofern bin ich davon überzeugt, dass es richtig ist, dass die “Anfängervorlesungen” Lineare Algebra 1/2 und Analysis 1/2 auch Bestandteil des Studiengangs Mathematik für Gymnasium/Gesamtschule/Berufskolleg sind und gemeinsam mit den Studierenden der Bachelorstudiengänge gehört werden.

Im Skript zur Linearen Algebra 1 habe ich dazu schon etwas mehr geschrieben.

Weitere Quellen

Die obige Liste ist natürlich keine fundierte Untersuchung zu den Berufsaussichten für Mathematiker*innen. Diese Untersuchungen gibt es aber auch. Daher zum Schluss einige Verweise auf Quellen, wo das Thema noch einmal ausführlicher und/oder aus anderen Blickwinkeln betrachtet wird.

  1. Dieter, G. Törner, Zahlen rund um das Mathematikstudium, Teil 6: Der Arbeitsmarkt für Mathematiker, Mitteilungen der DMV 17 (2009), 247-252, PDF

  1. Hilgert, J. Hilgert, Mathematik - ein Reiseführer, Springer Spektrum 2012, doi.org/10.1007/978-3-8274-2932-2, Kapitel 5

Was mich interessieren würde

In welcher Form würden Sie sich einen größeren Berufsbezug im Studium wünschen (oder hätten Sie ihn sich gewünscht)? Schreiben Sie gerne einen Kommentare dazu, oder schreiben Sie mir direkt per Email.

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